Neil Gaiman: Zerbrechliche Dinge (Buch)

Neil Gaiman
Zerbrechliche Dinge
(Fragile Things, 2006)
Übersetzung: Ruggero Leó, Hannes Riffel, Sara Riffel, Dietmar Schmidt und Karsten Singelmann
Eichborn, 2019, Paperback, 412 Seiten, 16,00 EUR, ISBN 978-3-8479-0655-1 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Die hier veröffentlichte Kurzgeschichten-Sammlung enthält Prosa und Lyrik aus mehr als 10 Jahren (1995 bis 2006). Im Gegensatz zur deutschen Erstveröffentlichung bei Klett-Cotta 2010 (die nur 14 Prosa-Erzählungen enthielt) sind diesmal alle 23 Geschichten, acht Gedichte und auch das längere Vorwort der Originalausgabe enthalten. Neu übersetzte Texte stammen dabei immer von Ruggero Leó.

Zudem wurde die Story „Wie man sich auf Partys mit Mädchen unterhält“ von Dietmar Schmidt neu übersetzt, während alle anderen Erzählungen von Hannes Riffel und Sara Riffel übersetzt wurden (mit Ausnahme der Novelle „Der Herr des Tals“, die von Carsten Singelmann ins Deutsche übertragen wurde) und somit aus der alten Ausgabe stammen.

Die Texte schwanken zwischen einer und knapp 60 Seiten Länge und zeigen, dass der Autor ein feiner Stilist ist, der wunderbar erzählen kann, was dank der hervorragenden Leistung der Übersetzer voll zur Geltung kommt.

Leider kann der Inhalt der Erzählungen oft mit dem stilistischen Niveau des Autors nicht mithalten. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Stephen King, der oft weniger durch seinen Stil, dafür aber durch seine Kreativität im Erfinden ausgefallener Situationen glänzt und hervorragende Ideen entwickelt, besticht Gaiman meist durch brillanten Stil und die traumhafte Atmosphäre, die er in seinen Texten entwickelt.

Oft sind die Geschichten bezüglich des Plots aber nicht so herausragend, wie Gaimans Stil es verdienen würde.


Nur selten passen Idee und Stil in ihrem hohen Niveau so erstklassig zusammen wie in der Story „Eine Studie in Smaragdgrün“, welche den Meisterdetektiv Sherlock Holmes bei seinen Ermittlungen in einer lovecraftartigen Parallelwelt zeigt. Hier haben vor 700 Jahren die alten Götter die Macht auf der Erde an sich gerissen, England heißt Neu-Albion und die Herrschenden habe grünes Blut und sind optisch kaum von Menschen zu unterscheiden. Auf bestialische Weise ist ein „deutscher“ Thronfolger ermordet worden, sein grünes Blut ziert die Wände und das deutsche Wort Rache steht dort geschrieben. Natürlich gelingt es Holmes, die Täter zu entlarven, wer jedoch zu ihnen gehört... das soll hier nicht verraten werden. Grandios auch die in die Erzählung eingeflochtenen Werbetexte, welche fast ausschließlich gelungene Verbeugungen des Autors vor berühmten literarischen Vorbildern des Genres sind. Zurecht erhielt der Autor für diese Geschichte den Hugo Gernsback Award der US-amerikanischen SF-Leserschaft.

Ebenfalls sehr gut gelungen ist die Kurzgeschichte von dem schüchternen Pubertierenden, der sich plötzlich auf einer ganz seltsamen Party wiederfindet, auf der die Mädchen allesamt aus fernen Welten zu stammen scheinen („Wie man sich auf Partys mit Mädchen unterhält“). Leider muss er von der Party fliehen ohne nähere Bekanntschaften gemacht zu haben, da sein Freund, der ihn begleitet hatte, dort eine große Dummheit gemacht hat...

Während sich in „Herr des Tals“ die Protagonisten nach und nach als Fabelwesen entpuppen und ein Kampf auf ungewöhnliche Weise endet, erzählt „Bitterer Kaffeesatz“ von einem Mann, der in die Rolle eines verschwundenen Forschers schlüpft, der sich auf dem Weg zu einem Anthropologen-Kongress befunden hatte, um einen Vortrag über Zombies zu halten.


Von den neu übersetzten Texten überzeugt (neben dem tollen Gedicht „Der Tag an dem die Untertassen kamen“) leider nur die brutal-derbe aber eindringliche Erzählung „Andenken und Schätze“, die einem in ihrer psychopathischen Kälte schon die Nerven rauben kann. Sie zeigt, welche Klasse der Autor hat, wenn er wirklich eine lesenswerte Geschichte zu erzählen hat. Der Rest der erstmals übersetzten Texte ist dann aber leider eher mäßig (aber immer gut zu lesen!).

Wie andere kürzere Texte Gaimans leiden viele jedoch darunter, dass sie sattsam bekannte Klischees aufwärmen, so folgende Geschichten: „Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch“, in der ein unheimlicher Zirkus sein Unwesen treibt, „Oktober hat den Vorsitz“, in der ein vernachlässigter Junge von Zuhause abhaut, um sein Schicksal zu finden, „Fressen und gefressen werden“, in der ein Mann einem unheimlichen Wesen verfällt, welches ihn bei lebendigem Leibe auffrisst oder „Sonnenvogel“, in der ein Gourmet-Club sich an einem Fabelwesen vergreift, was natürlich böse Folgen für die Mitglieder hat (hier zumindest hat der Autor nochmals eine wunderbare Idee umgesetzt, was sich jedoch erst am Ende der allzu langen Erzählung zeigt).

Und während vor allem die kürzeren Texte meist einzig und allein atmosphärische Schilderungen ohne konkrete Handlungsstränge sind, stellt „Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste“ wohl eine unausgegorene Parodie auf die Konventionen des Genres dar.

Insgesamt ist „Zerbrechliche Dinge“ keine schlechte Kollektion, aber rundweg empfehlenswert ist sie auch nicht geraten, dafür sind zu wenige Ideen vorhanden, auch wenn die stilistischen Fertigkeiten des Autors diesen Mangel scheinbar zu überdecken vermögen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass kaum eine überragende Kurzgeschichte hier veröffentlicht wird, in der alle Details (Grundidee, stilistisches Niveau und Ausführung) wirklich zu überzeugen vermögen.

Insgesamt also zwar eine lesbare, aber kein überragende Lektüre, wie man sie sonst oft bei Neil Gaiman in seinen längeren Erzählungen findet.