Christoph Hardebusch: Die Werwölfe (Hörbuch)

Christoph Hardebusch
Die Werwölfe
Gekürzte Lesung
Sprecher: Simon Jäger
Titelbild: Arndt Drechsler
DAV, 2010, 6CD, ca. 471 Minuten, 17,49 EUR, ISBN 978-3-89813-950-2

Rezension von Elmar Huber

„Angenommen, diese Wolfsmenschen würden nicht nur über die Macht verfügen, sich in Wölfe zu verwandeln, sondern auch über eine gewisse Magie, die sie schützt. Und hätten sie nicht allen Grund im Verborgenen zu bleiben? Denn, einmal angenommen, diese Kreaturen gäbe es wirklich, dann hätten sie gewiss mächtige Feinde, die sie jagen. Sei es, um sie zu töten, sei es, um sie sich zu Nutze zu machen.“

Italien, Anfang des 19. Jahrhunderts. Der junge Adlige Niccolo zögert, Valentine, der Gesellschafterin seiner kleinen Schwester, seine Liebe zu gestehen, als sein Vater ihn vor dem bevorstehenden Militärdienst auf eine Grand Tour durch die Adelshäuser Europas schickt. Auf dem ersten Teil des Weges soll ihn Valentine begleiten, bis diese bei ihrer Familie am Genfer See zurückbleiben wird.

Zu Gast bei Valentines Familie lernt Niccolo zufällig den englischen Romancier George Byron kennen, der den jungen Adligen sogleich in die Villa Diodati einlädt, wo er gemeinsam mit Percy Shelley, Mary Goodwin (die spätere „Frankenstein“-Autorin Mary W. Shelley), deren Stiefschwester Claire Clairmont und seinem Leibarzt John Polidori nebst Diener residiert. Das Treiben dort genießt einen zweifelhaften Ruf in den umliegenden Gemeinden. Gerüchte von Orgien, Sodomie und sogar Teufelsbeschwörungen machen die Runde.

Niccolo, selbst äußerst belesen, gerät immer mehr in den Bann der dekadenten und freigeistigen Gesellschaft und verbringt schließlich ganze alkohol- und laudanumgeschwängerte Nächte im Kreis der Engländer, bis die Männer ihn schließlich in ihr düsteres Geheimnis einweihen. In dieser Nacht der Erkenntnis wird die Gemeinschaft zerschlagen. Niccolo muss fliehen und Valentine ohne versöhnlichen Abschied verlassen.

Fortan streunt Niccolo durch Europas Höfe, bis ihm bewusst wird, dass das Treffen mit Byron und dessen Rudel tiefere Spuren hinterlassen hat, als zunächst angenommen. Nach dem Tod seiner Eltern treibt die Neugier Niccolo schließlich ins Osmanische Reich, wo er hofft, endlich Antworten auf seine quälenden Fragen zu erhalten und einen Weg zu finden, seinen Fluch zu brechen.

„Der Gedanke, dass abergläubische Dörfler des nächtens um das Gebäude schlichen, erschreckte ihn, und für einen Moment fragte er sich, ob sich nicht vielleicht ein Mob zusammengerottet hatte, um den Bewohnern der Villa den Garaus zu machen. Doch die Lichter bewegten sich weg von Diodati und auch nicht Richtung Kolony, sondern fort von den Häusern - von aller Zivilisation - in Richtung der Berge.“


Lassen die ersten Minuten von „Die Werwölfe“ noch eine Romantik-Schmonzette erwarten, in denen eben diese Kreaturen von Jägern des Vatikans verfolgt werden und der unbedarfte Adlige Niccolo lediglich Beobachter ist, entwickelt sich die Geschichte mit den Ereignissen in der Villa Diodati schon bald in eine sehr düstere und dekadente Richtung. Niccolo ist zerrissen zwischen seiner Liebe zu Valentine und dieser neuen, unkonventionellen Welt, die Byron und dessen Entourage ihm zeigen.

Immer weiter entwickelt sich die Hauptfigur Niccolo, wird düsterer, zwiespältiger, interessanter. Überhaupt setzt Christoph Hardebusch in „Die Werwölfe“ auf Figuren-Entwicklung und Grautöne. Niemand ist hier ausschließlich gut oder böse, und der Niccolo, den die Leser am Ende des Buches verlassen - acht Jahre nach Beginn seiner Reise(n) - ist ein vollkommen anderer Mensch, als der unbedarfte und unschuldige Adelsspross, den wir zu Beginn im heimatlichen, sonnendurchfluteten Garten getroffen haben.

Auch auf der Gegenseite - wenn man hier davon sprechen darf - erleben wir überraschende Gesinnungswandel, die aus dem unterschiedlichsten Motiven geschehen. Das verleiht den Figuren unerwartete Tragik und Tiefe.

Dass Niccolos Widersacher, Graf Karnstein, ausgerechnet ein Vampir ist, mag zunächst zu viel des Guten erscheinen, doch Christoph Hardebusch sagt selbst: „Ich wollte eine Welt erschaffen, in der es mehr phantastische Elemente als nur die Werwölfe gibt. Werwolf und Vampir haben in vielen Volksmythen ähnliche Wurzeln, und es erschien mir einfach passend, einen Vampir einzubauen.“ Außerdem hat der Autor mit diesem Vampir im zweiten Teil des Buches noch viel vor. Ein schönes Beispiel, wie gewissenhaft Christoph Hardebusch mit seinen Figuren umgeht.

Die dritte Partei in „Die Werwölfe“ bilden Beauftragte des Vatikans, die die Geschöpfe der Nacht mit aller Härte jagen und bekämpfen. Obwohl diese Gruppe nicht zwingend für das Funktionieren des Romans notwendig gewesen wäre, sind diese Jäger alles andere als bloßes Füllwerk oder gesichtslose Schergen. Erneut legt der Autor eine beispielhafte Zuverlässigkeit in Sachen Personenzeichnung an den Tag.

Ähnlich wie Kim Newman in „Anno Dracula“ (und zahlreichen weiteren Beispielen) vermengt Christoph Hardebusch in „Die Werwölfe“ Fakt und Fiktion und baut reale, historische Personen wie Lord Byron und dessen Freunde oder die Gelehrten Alexander und Wilhelm von Humboldt in seinen Roman ein. Während des tatsächlichen Aufenthalts in der Villa Diodati soll beispielsweise Mary Shelleys Klassiker „Frankenstein“ und Byrons „Der Vampyr“ entstanden sein.

Die Struktur von „Die Werwölfe“ ist episodenhaft, wobei man grob in drei Teile untergliedern kann. Formal ist das Buch in nur zwei Teile gegliedert, benannt „Prometheus“, wo Niccolo das Feuer der Erkenntnis erhält, und „Orpheus“, in dem Niccolo ein unterirdisches Martyrium erwartet und er seine Geliebte (endgültig?) verliert.

Die letzte Szene des Hörbuchs vereint die liebgewonnenen Figuren wieder, doch nur, um diese neue, getrennte Wege einschlagen zu lassen. Die Karten sind neu gemischt und der Boden ist bereitet für eine mögliche Fortsetzung.

Das Hörbuch wird großartig intoniert von Simon Jäger (dem deutschen Synchronsprecher von Josh Hartnett und Matt Damon), den man sonst eher von Krimi- und Thriller-Lesungen kennt. Simon Jäger liest angenehm lebendig und versteht es, mit unaufdringlichen Modulationen einzelne Figuren unterscheidbar zu machen.

„Die Werwölfe“ ist ein großartiges, düster-romantisches Spektakel, das mit einer konsequenten Figuren-Entwicklung überzeugt, ausgelutschte Gut/Böse-Schemata vermeidet und den Spannungsfaden nie wirklich aus der Hand legt.