Martin Kay: Das Buch Shen (Buch)

Martin Kay
Das Buch Shen
Shendria 1
Titelbild: Mark Freier
Karte: Timo Kümmel
Atlantis, 2016, Paperback, 404 Seiten, 14,90 EUR, ISBN 978-3-86402-288-3 (auch als Hardcover und als eBook erhältlich)

Rezension von Irene Salzmann

Bryan ist der typische Loser: Er sieht schlecht, ist leicht gehbehindert und gilt als Streber. Mädchen interessieren sich nicht für ihn, wohl aber die Schläger am College, die ihn schikanieren, nicht weil sie Grund dazu hätten, sondern weil sie es können. Als wäre das nicht schon schlimm genug, plagt ihn jede Nacht derselbe Albtraum, in dem er in einem Fantasy-Land auf der Flucht ist.

Dass mehr hinter diesen Träumen steckt, muss er akzeptieren, als plötzlich ein uralter Mann in seinem Zimmer auftaucht, der behauptet, der König von Shen und sein Vater zu sein. Chton erklärt Bryan, dass er zu seinem Schutz als kleines Kind auf die Erde gebracht worden war, nun jedoch in seine Heimat zurückkehren muss, um einen furchtbaren Krieg zu verhindern. Dafür ist es notwendig, „das Buch Shen“ an seinen Platz zu bringen. Eine Gruppe königstreuer Vasallen soll Bryan an diesen Ort geleiten.

Der Alte stirbt, und der verblüffte junge Mann wird durch ein Tor in die Welt Shendria versetzt, aber nicht an die Stelle, an der er erwartet wird, sondern in Feindesland, weil ein mächtiger Magier den Übertritt manipulieren konnte. Mit nichts anderem als dem Schwert seines Vaters und einem besonderen Rucksack - darin das ominöse Buch - findet sich Bryan in der Fremde wieder. Allerdings hat er sich verändert, und seine Gebrechen sind geheilt, was jedoch nicht heißt, dass er sich allein an sein Ziel durchschlagen kann.

Glücklicherweise trifft er auf die Kriegerin Skye, die ihn zwar nervig findet, ihn aber unter ihre Fittiche nimmt, weil er sie positiv überrascht. Nach und nach schließen sich ihnen weitere Personen an, darunter auch Vertreter von Völkern, zu denen die Menschen stets Abstand wahrten und umgekehrt. Derweil suchen sowohl die Königstreuen als auch die rivalisierenden Geschwister des verstorbenen Monarchen nach Bryan, denn wer „das Buch Shen“ besitzt, erlangt die Macht über Shendria.


Der Titel lässt den Leser zunächst vermuten, er würde in eine asiatisch angehauchte Fantasy-Welt entführt, aber dem ist nicht so. Die Eigennamen folgen keinen Sprachmustern, die kulturelle Implikationen bieten oder auch nur einem logischen System folgen. Dafür findet man neben den Menschen die typischen Fabelwesen wie Drachen (-Reiter), Feen (Dryaden, Oreaden und so weiter), humanoide Echsen und Schatten. Was die einzelnen Völker motiviert, bleibt hier im Dunkeln, denn es geht einzig darum, die Machtverhältnisse unter den menschlichen Fürsten zu klären und dadurch Konflikte - einen Vernichtungskrieg - mit den nichtmenschlichen Bewohnern der angrenzenden Reiche zu vermeiden.

Bryan, der so aufgebaut wurde, dass man mit ihm sympathisiert, wird von heute auf morgen ins kalte Wasser geworfen und muss sich in einer Welt zurechtfinden, die angeblich seine Heimat ist, doch als solche sieht er die Erde, und dahin will er schnellstens wieder zurück. Zwar verfügt er als Sohn von König Chton über eine gewisse Gabe, die seine Konstitution verbessert und ihm hilft, den Umgang mit Waffen rasch zu erlernen, doch es muss erst eine ganze Menge passieren, bis er wirklich dazu bereit ist, für ihn schreckliche Dinge zu tun, um sich und seine Begleiter zu schützen.

Skye und einige andere helfen ihm vor allem in der Anfangszeit, bis er soweit ist. Dann wird auch sein Geheimnis, dass er der designierte König von Shen ist, aufgedeckt. Doch ob er den Thron jemals wird besteigen können, ist ungewiss, denn seine Feinde sind mächtig und skrupellos, er gerät in Gefangenschaft, „das Buch Shen“ gerät in falsche Hände usw. usf.

Das alles liest sich wie ein Jugendroman: Die Hauptfiguren sind überwiegend Teens oder Twens, die in einem leicht schnodderigen Tonfall reden. Die wichtige Aufgabe ist für sie eine nervige Sache, die irgendwie erledigt werden muss, denn eigentlich haben sie ganz andere Sorgen, darunter problematische Tändeleien, die nicht so recht ein romantisches Feeling aufkommen lassen wollen.

Manchmal fühlt man sich sogar wie in einem Fantasy-Rollenspiel, wenn etwas Unvorhersehbares geschieht, als wäre eine bestimmte Zahl gewürfelt oder ein Joker gefunden worden, welcher der Figur dies oder das ermöglicht, ohne das gleich ein Nutzen ersichtlich ist (wie Bryans Entjungferung durch eine Dryade, die ihm weiterhilft, oder das Reiten in die falsche Richtung, nur weil ein Zauberer, der kaum Szenen hat, dies bewirkt).

Bryan wächst an seinen Herausforderungen und wird langsam reifer. Es gelingt ihm sogar, einige seiner Überzeugungen, die er von der Erde mitbrachte, an andere zu vermitteln und so auch die Freundschaft von Fremdwesen und einem ehemaligen Feind zu erlangen. Am Ende wartet er zudem mit einer Überraschung auf.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, doch die letzten Seiten sorgen für einen offenen Schluss. Tatsächlich wäre eine Fortsetzung sogar sinnvoll, denn so manches, was angeschnitten wurde, blieb vage, gerade was die anderen Völker und deren Beziehung zu den Menschen und untereinander betrifft.

„Das Buch Shen“ bietet leichte Unterhaltung für ein jüngeres, eher männliches und Spiel affines Publikum. Leider erfährt man nicht allzu viel über Shendria beziehungsweise die Welt Babili und ihre Völker, da Einzel-Charaktere für das ‚wohlige Grauen‘ in den Vordergrund gerückt werden, die irgendeine Macke haben (Königin Elen und ihr Spinnen-Lover…), welche aber nicht repräsentativ für die Untertanen sind. Das schießt über das Ziel hinaus und hilft dem Leser nicht, dieses Fantasy-Reich für sich zu erschließen. Nun, mal abwarten, ob und wie es in der Fortsetzung weitergeht.