Charlotte Erpenbeck (Hrsg.): Das Schiff, das nie hätte gebaut werden dürfen (Buch)

Charlotte Erpenbeck (Hrsg.)
Das Schiff, das nie hätte gebaut werden dürfen
Machandel, 2017, Taschenbuch, 177 Seiten, 7,90 EUR, ISBN 978-3-95959-066-2 (auch als Hardcover erhältlich, 14,90 EUR, ISBN 978-3-95959-065-5)

Rezension von Gunther Barnewald

Die vorliegende Anthologie ist zweifellos eine der besten SF-Storysammlungen der letzten Jahre, obwohl die fünf hier enthaltenen Geschichten von Autoren stammen, deren Namen kaum bekannt sein dürfte. Aber die Herausgeberin Charlotte Erpenbeck hat es geschafft, hier vier Kurzgeschichten und eine Novelle zu vereinen, die sowohl inhaltlich überzeugen als auch sehr gut zu lesen sind. Thematische Aufhänger der Anthologie scheinen berühmte Märchen gewesen zu sein, welche den Autoren als Inspiration für ihre Erzählungen gedient haben. So verwenden sowohl Detlef Schirrow als auch Tobias Habenicht das berühmte Märchen „Die Geschichte von dem Gespensterschiff „von Wilhelm Hauff als Ideenquelle und beiden (vor allem jedoch Habenicht) gelingen dadurch wunderbar gruselige Sujets und extrem spannende Geschichten, die sich auch noch deutlich voneinander unterscheiden. Während Sylvia Werth schon im Titel bekennt, dass sie sich Hans Christian Andersens Märchen „Das Feuerzeug“ zur Grundlage genommen hat, dient das Märchen „Däumelinchen“ des gleichen Dichters auch Roselinde Dombach als titelgebende Quelle. Gerd Münscher bedient sich wiederum bei den Märchen aus 1001 Nacht und holt sich Anleihen bei „Aladin und die Wunderlampe“.

Wie grandios man diese Grundideen umsetzen kann, zeigen vor allem Habenicht mit seiner überragenden Novelle, die der Anthologie auch den Titel gab, und Gerd Münscher mit der Kurzgeschichte „Space-Dschin“.


Doch nun zu den einzelnen Erzählungen.

In „Das Geisterraumschiff“ von Detlef Schirrow müssen sich zwei schiffbrüchige Raumfahrer auf ein längst verschollenes Raumschiff retten. Nach der Rückkehr des einen Raumfahrers zur Erde wird dieser von Mitarbeitern der Weltraumbehörde sehr kritisch befragt, ihm und seinem Mitüberlebenden werden unlautere Machenschaften vorgeworfen, denn eigentlich hätten die beiden die lange Wartezeit bis zu ihrer Rettung gar nicht überleben können. Doch die zwei hatten da was ausbaldowert…

Schirrow verwendet hier eine alte Idee des Genres noch einmal in einem neuen Gewand und überzeugt so schon mit der ersten Geschichte auch skeptische SF-Leser, die sich gut im Genre gut auskennen.


Danach stürzt eine Außerirdische auf einer Erde zur Zeit des Mittelalters ab. Dank ihrer modernen Technik kann sie einen Hiesigen für sich instrumentalisieren, bis dieser rebelliert und die ganze Beute für sich will. Da hat er sich aber geschnitten…

Sylvia Werth hat für „Das Feuerzeug reloaded“ noch mal ganz intensiv bei Andersen nachgelesen und doch einiges wohltuend verändert. Keine überragende Geschichte, oft zu unkonkret, aber insgesamt doch amüsant zu lesen.


Gerd Münscher schafft es, eine durch und durch positive Geschichte zu erzählen, welche durch den Kontakt eines Menschen mit fortschrittlicher Alien-Technik nicht zu Desaster und Katastrophe führt, sondern tatsächlich zu einer vorteilhaften Situation für beide Seiten.

Ein Raumfahrer, weit weg von Zuhause und am Ende seiner Vorräte, trifft im All auf eine Art golden schimmerndes Ei, welches sich als hochintelligente und sehr komplexe Alien-Technologie entpuppt, die nicht feindselig ist, sondern stattdessen nach einer Aufgabe für sich in der Einsamkeit sucht. Diesem „Es“ kann geholfen werden…


„Das Däumelinchen-Experiment“ von Roselinde Dombach berichtet von einem begnadeten Bio-Wissenschaftler, der für seine verwöhnte und gebärunwillige Frau eine künstliches Kind im Alter zwischen Kind und Teenie erschafft. Doch leider will die freche Kleine nicht so wie ihre wenig empathischen Eltern…

Keine Neuerfindung des Genres, aber in ihrer Erzählweise sehr gelungen, unterhaltsam und stringent, eine süffisante Kurzgeschichte.


Die titelgebende Novelle von Tobias Habenicht ist mit knapp 80 Seiten nicht nur der Hecht im Karpfenteich, sondern auch inhaltlich ein echtes Schmankerl und literarisches Highlight.

Nach der Havarie und der völligen Zerstörung ihres eigenen Raumschiffes gelingt es zwei Überlebenden in einer Raumkapsel an Bord eines legendären Geisterschiffs zu gehen, welches schon seit Hunderten von Jahren in diesem Asteroidengebiet kreist. Hier an Bord erfahren sie so nach und nach, welches schreckliche Geschehen sich hier dereinst abspielte. Und da das Schiff mit Holoprojektoren ausgestattet ist, werden sie auch der gruseligen Vorkommnisse ansichtig und können durch die gespeicherten Dialoge hören, wie sich alles ereignete. Ihnen erschließt sich bald ein ebenso phantastisches wie erschreckendes Szenario einer wahrhaft grausigen Katastrophe…

Wer den Spielfilm „Event Horizon - Am Rande des Horizonts“ mochte, der wird auch hier voll auf seine Kosten kommen, denn die Geschichte ist nicht nur durchgängig hochspannend und genial konstruiert, sie kann auch atmosphärisch mit den besten Werken des SF-Horror-Genres mithalten. Schon alleine für diese Novelle lohnt sich der Kauf dieser Anthologie, egal ob man sich für die günstigere Taschenbuch-Version für 7.90 EUR oder die Hardcover-Version für 14,90 EUR entscheidet.


Eine bestrickende Zusammenstellung, für die man Charlotte Erpenbeck gratulieren muss.

Dazu kommen noch diverse, mal mehr, mal weniger gelungene Illustrationen in beiden Publikationen (so enthält auch das Taschenbuch Illustrationen).

Nur der manchmal etwas verschobene Satz des Taschenbuchs und die nicht mehr stimmenden Seitenzahlen der einzelnen Geschichten im Inhaltsverzeichnis trüben den ansonsten hervorragenden Eindruck des Taschenbuchs etwas.

Für jeden SF-Fan eine absolut empfehlenswerte Lektüre und definitiv eine fulminante Sammlung von deutschen SF-Erzählungen; eine der besten der letzten Jahre!