Aprilynne Pike: Es liegt in deiner Hand - Dangerous Visions 1 (Buch)

Aprilynne Pike
Es liegt in deiner Hand
Dangerous Visions 1
(Sleep No More, 2014)
Aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig
cbj, 2015, Hardcover, 382 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-570-15 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Seit sie drei Jahre alt ist, wird die sechzehnjährige Charlotte regelmäßig von Visionen heimgesucht. Als sie den Tod ihrer Tante Sierra vorhersieht, greift sie ein uns zahlt teuer dafür: Ihr Vater stirbt, und die Mutter ist für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Daraufhin schärft Sierra ihr ein, nie wieder zu versuchen, die Zukunft zu beeinflussen und jede Vision abzuwehren.

Das Warum wird Charlotte nicht erklärt, und auch sonst wird sie im Unklaren über ihre Gabe gelassen. Sie weiß nur, dass sie und ihre Tante Orakel sind und es eine mysteriöse Schwesternschaft gibt, der sie sich eines Tages anschließen soll.

Nachdem Charlotte geraume Zeit relativ harmlose Visionen hatte, sieht sie unerwartet den Tod einer Mitschülerin. Dass sie nichts tun konnte - getan hat -, setzt ihr schwer zu, vor allem als sie eine merkwürdige SMS erhält, in der ihr ein Unbekannter genau das zum Vorwurf macht. Als ein weiterer Schüler ermordet wird, den sie gekannt und zu warnen versucht hat, nimmt sie Kontakt zu dem Mann namens Smith auf, der selber zwar kein Orakel ist, aber über sie Bescheid weiß und Charlottes Geheimnis kennt.

Weil sie nicht mit dem Wissen leben kann, dass sie durch ihre Untätigkeit mit schuld ist an den weiteren Opfern des Serienmörders, lässt sie sich von Smith anleiten, wie sie in ihre Visionen zurückkehren und die Jugendlichen beeinflussen kann, nicht in die tödliche Falle zu laufen. In der übergeordneten Ebene versucht sie, den Mörder zu entlarven, um sein Treiben zu beenden, aber sein Gesicht bleibt im Dunkeln.

Immerhin gelingt es Charlotte, einige Schüler zu retten. Außerdem kommt sie ihrem Schwarm Linden näher. Darüber vernachlässigt sie ihre Übungen, und es ereignen sich Morde, die sich nicht vorhergesehen hat. Aber schlimmer noch: Plötzlich sieht sie sich selbst voller Blut und wie sie andere tötet. Und in ihrer Hand befindet sich ein Messer! Hat etwa sie selbst die Jugendlichen getötet und darum keine Vision gehabt? Sierra kann sie sich nicht anvertrauen, denn möglicherweise hat sie etwas mit den Morden zu tun. Doch auch gegenüber Smith wächst Charlottes Misstrauen.


Aprilynne Pike hakt in ihren Jugendbüchern die gängigen Themen ab, die Mädchen ab 12 Jahre, sofern sie sich für Fantasy und Mystery begeistern, mögen: Elfen, Göttinnen und nun Seherinnen. Als Quell der Inspiration dienen ihr die gängigen Sagen und Märchen, in diesem Fall das Motiv der Pythia, das Orakel von Delphi.

Zunächst lernt man das Umfeld von Hauptfigur Charlotte kennen und erfährt, dass sie eine unausgebildete Seherin ist, die ihre Gabe nicht anwenden darf, weil sie damit schon einmal ein großes Unheil auslöste. Da man ihr nicht erklärt, warum sich die Orakel verbergen und ihre Talente verleugnen, dauert es nicht lange, bis sie die Regeln bricht, nach Wissen zu streben beginnt - die Bibliothek der Tante ist für sie tabu -, unter Smiths Anleitung experimentiert und Dinge erfährt, die auch er ihr verschwiegen hat, und aktiv eingreift, um Leben zu retten und einen Mörder zur Strecke zu bringen.

Tatsächlich beschäftigt Charlotte die Frage, wozu die Visionen gut sind, wenn sie sie ignorieren soll, und ob es nicht in Wirklichkeit ihre Aufgabe ist, die Todesfälle zu verhindern. Da Sierra stets den Fragen ausweicht und sich geheimnisvoll gibt, nährt sie unabsichtlich Charlottes Misstrauen ihr und der Schwesternschaft gegenüber. Aber auch Smith ist nicht der, der er vorgibt zu sein, und als sie ihn endlich durchschaut und die Puzzleteile zusammensetzt, ist es längst zu spät, ist sie nicht mehr ihr eigener Herr und hält Linden, den sie aus tiefstem Herzen liebt, das Messer an die Kehle.

Im Prinzip folgt das Buch in seinem Aufbau dem Schema aller anderen Bücher der Autorin: Ein Mädchen muss seine Besonderheit verbergen, jemand will ihre Gabe zu finsteren Zwecken benutzen, sie weiß nicht, wem sie vertrauen kann, nichts und niemand ist so, wie es auf den ersten Blick hin scheint, und einige Antworten wird es erst gegen Ende des Buchs beziehungsweise in den nächsten Bänden gegeben. Zu Mystery und Fantasy kommt eine jugendfreie Prise Romantik. Die Handlung eskaliert erst langsam, dann spitzt sich alles ganz schnell zu. Hier finden sich meist auch die Schwächen der Geschichte, denn die Protagonistin stellt nicht die richtigen Fragen beziehungsweise zieht nicht die richtigen Schlüsse, die so offensichtlich sind (Charlotte weiß, dass der Mörder ein Mann ist, aber mit einem Mal sieht sie sich selbst in dieser Rolle, ferner hat sich ein Messer manifestiert…) und um die Chance zu bekommen, sich aus dem Schlamassel zu befreien, benötigt sie die Hilfe von Deus ex Machina.

Aprilynne Pike schreibt flüssig und unterhaltsam, sie kreiert sympathische Identifikationsfiguren, ihre Ideen faszinieren - und sind an 12 bis 16jährige adressiert. Das reifere Publikum empfindet ihre Titel wohl als zu vorhersehbar und stolpert auch über die genannten Schwächen.