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Markus K. Korb: "Sommerschnee"

Das News-Aufkommen aus dem Bereich der Phantastik (egal ob in Sachen Literatur, Film & Serien, Comic etc.) wird in nächster Zeit vermutlich rückläufig sein. Rezensionen werden wir natürlich weiterhin online stellen. Bis auf Weiteres möchten wir unser Angebot aber um Kurzgeschichten erweitern. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren, die uns hierbei unterstützen.

Heute: „Sommerschnee“ von Markus K. Korb


SOMMERSCHNEE

von Markus K. Korb

 

Der laue Abend war schon in die Dämmerung der Nacht übergegangen, als der Mann den laut scheppernden Karren über den Rasen fuhr. Die schief stehenden Plastikreifen klapperten am Gestänge und der Handwagen schaukelte bei jedem Schritt, so dass die gesplitterten Handauflagen an der Lenkgabel dem Mann unablässig über die Hornhaut schrubbten. Er bemerkte es kaum, denn er war vollauf damit beschäftigt, mit einem Holzstecken im Trichter des Karrens zu stochern, so dass dort ein weißliches Pulver gleichmäßig durch das Gitter am Boden fiel. Ab und an wandte er sich um und blickte auf die weiße Kreidelinie, die er hinter sich herzog, gleich dem Faden der Ariadne hinter Theseus im Labyrinth des Minotaurus.
Die Kippe im Mundwinkel glühte in der Sommernacht. Der Mann nahm die Zigarette auf und schnippte die Asche ins Gras. Dann blickte er erneut zurück. Die Linie war gerade. Zufrieden zog der Mann einen Schleimklumpen tief aus dem Rachen und spuckte ihn im hohen Bogen aus. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um.
Die Straßenlaternen waren schon erleuchtet und beschienen den Weg jenseits der Tor-Aus-Linie, der hinab zu den Ferienhäusern am Waldrand führte. Der Fußballplatz lag jedoch im Halbdunkel, da er sich inmitten einer natürlichen Senke befand.
Tief sog der Mann die Luft ein. Es roch nach frisch gemähtem Gras und Sommerblumen. Horst liebte es, am Übergang von Tag zu Nacht zu arbeiten, wenn die Gegenstände langsam begannen, ihre Konturen zu verlieren und einschmolzen in die sie umgebende Finsternis.
Horst war ein Fußballplatzwart, wie ihn sich jeder Sportverein wünscht. Wöchentlich fuhr er den benzingetriebenen Rasenmäher, kontrollierte den Zustand der Tore, der Eckfahnen, sah nach dem Luftdruck der Fußbälle. Und am Tag vor jedem Heimspiel zeichnete er mit dem Kreidekarren die Linien auf dem Fußballplatz nach. So wie heute.
Aber was Horst nicht wusste war, dass dieser Abend seine Ansichten über die Welt, das Universum und den ganzen Rest von Grund auf verändern sollte. Und den Anfang hierzu machte ein glitzernder Punkt am Himmel.
Zunächst fiel es dem Fußballplatzwart gar nicht auf. Doch dann entdeckte er das Funkeln aus den Augenwinkeln. Aus Südost näherte sich die hellste Sternschnuppe, die Horst in seinem Leben gesehen hatte. Er wandte den Kopf der Himmelserscheinung zu und sah, wie der Lichtstreifen lautlos über den Fußballplatz hinwegraste und hinter dem angrenzenden Wald in der Ferne verschwand.
Horst kratzte sich über das Haar, das am Hinterkopf schon schütter wurde, und zog eine Schnute, was seinem halbmondförmigen Gesicht ein bizarres Aussehen verlieh.
„Die war aber hell“, murmelte er und begann wieder mit seiner Arbeit im Schatten der Flutlichtmasten. Er zog die Fünf-Meter-Linie nach, die den Torraum vom Strafraum trennt. Anschließend kümmerte er sich noch darum, dass der Elfmeterpunkt sauber erkennbar war, indem er die trichterförmig zusammengelegten Hände in den Karren tauchte, eine Handvoll Kreide hervorhob, zum Elfer hinübertrug und dort behutsam absetzte. Danach kehrte er zum Kreidekarren zurück. Bald schon erklang wieder das vertraute Klappern, als Horst seinen Weg entlang der Seitenlinie fortsetzte.
Horst war 50 Jahre alt und Junggeselle. Bislang hatte es keine Frau gegeben, für die er sich mehr als nur flüchtig interessiert hatte. Der Sportverein, das war sein Leben. Der Sportverein, der Fußball und die Feste. Dem Alkohol war er zudem ebenfalls nicht abgeneigt. Horst sah sich selbst als zufriedenen Menschen, den nichts erschüttern konnte. Und das Junggesellendasein war für ihn keine Bürde. Im Gegenteil. Er genoss die Freiheiten, die sich daraus ergaben.
Die Nacht war schon hereingebrochen, als Horst die Mittellinie nachzog. Er kurvte den Mittelkreis ab und setzte eben an, den Anstoßpunkt neu zu markieren, als er eine Bewegung am Waldrand wahrnahm.
Zwei bleiche Gestalten taumelten aus dem Dickicht ins Licht der Straßenlaternen. Horst starrte mit weit aufgerissenen Augen hinüber – es waren Frauen, was aufgrund ihrer Nacktheit deutlich erkennbar war.
„Na, da brat mir doch einer 'nen Storch!“, grummelte er und ließ die Kreide in den Karren fallen. „Was ist denn mit denen los?“
Mit seinem schlurfenden Goofy-Schritt bewegte sich Horst auf die beiden Frauen zu, die eben den Fußballplatz erreichten und die Torlinie überschritten. Es war schon dunkel und Horst war gut fünfzig Meter von den beiden entfernt, dennoch erkannte er im schwachen Straßenlampenlicht, dass eine Frau blond, die andere brünett war. Beide trugen Cowboystiefel und Cowboyhüte. Ihre Brüste schlenkerten von der einen zur anderen Seite, als die Frauen mit steifen, ungelenken Bewegungen auf die Mitte des Platzes zuschritten.
„Irgendwas stimmt da nicht!“, wunderte sich Horst und blieb stehen. „Immer cool bleiben!“
Er fischte die Packung Marlboro heraus, die er sich vorhin unter das T-Shirt gesteckt und auf die linke Schulter gelegt hatte. Das Zippo schnippte klickend, eine blaue Flamme leuchtete in der Finsternis auf und zeigte Horsts Halbmondgesicht im Profil. Dann glomm ein Tabakglühwürmchen in der Nacht, umgeben von Rauchschwaden.
Horst wartete auf die Frauen.
Diese waren alsbald heran. Horst schätzte an ihrer Orangenhaut, dass sie um die 40 Jahre alt waren. Aber bei Frauen konnte man das ja nie so genau wissen, dachte er sich insgeheim. Die Blonde trug eine modische Kurzhaarfrisur, während die Haare der Brünetten weit hinab zur Hüfte reichten. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln, so dass er keine Details erkennen konnte
„Hallo, ich bin der Horst!“ Horst bemühte sich um Konversation. „Wie geht es euch? Alles okay?“
Die Braunhaarige antwortete: „Bring uns zu deinem Anführer!“
Der Fußballplatzwart schreckte innerlich zurück. Jeglicher angenehmer Gedanke, der ihm beim Anblick der beiden Nackten gekommen war, schrumpfte schneckengleich zusammen. „Welche Schraube ist denn bei denen locker?“, fragte er sich. Laut aber sagte er: „Ich denke, ihr wollt zum Sportvereinsvorstand, ist klar. Kommt mit!“ Er winkte mit seiner behaarten Bärentatze und lief los in Richtung Sportheim, das über dem Platz wie ein Herrenhaus auf einer Anhöhe thronte. Davor stand ein dunkles Rechteck – der Verkaufswagen, wo bei Heimspielen Bratwürste und Steaks gegrillt wurden.
„Was ist denn bei euch passiert?“, wollte er wissen, während sie über das Gras schritten.
Die Brünette sah ihn an, hob die Augenbraue: „Unfall“.
„Wo?“
„Wald.“
„Ah!“
Schweigend lief das Trio weiter. Am Fuß der steilen Betontreppe hielt Horst an. Sie führte hinauf zum Sportheim.
„Könnt ihr da rauf?“
„Ja“, war die Antwort der Braunhaarigen. Die Blonde schwieg.
„Besonders gesprächig seid ihr ja nicht!“, sagte Horst und sah mit zusammengekniffenen Augen von der einen zur anderen. „Wie ich. Gefällt mir!“ Er grinste und begann die Treppe emporzusteigen. Nach einiger Zeit blickte er sich um.
Die Frauen hatten sichtlich Mühe mit der Treppe. Mit den Händen mussten sie sich am Handlauf festhalten und bewegten sich seitlich Stufe für Stufe empor. Sie knickten die Knie nicht, sondern hoben ihre Beine in Gänze an, streckten sie nach hinten aus, balancierten auf einem Fuß und setzten dann das durchgezogene Bein auf die nächsthöhere Stufe. Auf diese Weise kletterten die Frauen die Treppe seitlich stehend empor, was einen geradezu lächerlichen Eindruck auf Horst gemacht hätte, wäre da nicht das stete Stöhnen gewesen, das ihre Anstrengungen begleitete.
„Na ja, sicherlich haben die was Gröberes beim Unfall abbekommen, kann man ja verstehen, so was“, dachte er bei sich.
Am oberen Ende der Treppe wartete er auf die beiden. Als diese angekommen waren und die Köpfe hoben, fiel das Licht der Sportheimreklame auf ihre Gesichter und tauchte sie in ein fahles Grün. Horst zuckte zurück.
„Das kann nicht sein!“, schrie er innerlich.
Der Hals der Braunhaarigen sah aus, als habe sie ihren den Kopf halb nach links umgedreht, denn die tiefen Falten und die verdrehten Muskelstränge unter der Haut vermittelten diesen Eindruck, obgleich das Gesicht nach vorne blickte.
Bei der Blonden sah der Hals straff gespannt aus, dafür war ihr Gesicht schief. Der Mund saß zu weit oben, die Nase war in Richtung Stirn gerutscht, wo sich eine Hautwulst wölbte, die den Haaransatz verbarg. Merkwürdigerweise waren die Augen an der richtigen Stelle. Links und rechts davon befand sich je eine Falte, die den Hügel des Nasenknorpels zu beiden Seiten begleiteten, der sich unter der Haut abzeichnete.
Den beiden Frauen fiel Horsts Zurückzucken auf. Sie sahen sich an, dann schritten sie langsam auf ihn zu. Dieser wich nach hinten aus, wo der Bratwurst-Wagen stand.
„Wer oder was seid ihr?“
Die Blonde wollte reden, was einen bizarren Eindruck machte, da sich zwar unter der Haut die Kiefer bewegten und die Lippen zu weit oben sich öffneten und schlossen, aber kein verständlicher Laut herausdrang, nur ein „Mmmmm-mmmm“.
Dafür antwortete nun die Brünette: „Schon mehrfach ist ein Aufklärungskommando von unserem Mutterschiff auf diesen Planeten geschickt worden, jedes Mal hat es sich nicht mehr gemeldet.“
Horst wich weiter zurück, bis er die Bretterwand des Bratwurstwagens im Rücken spürte. Die Frauen staksten mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Voller Schrecken bemerkte der Mann, dass am Waldrand zwei weitere bleiche Gestalten auftauchten und in ruckartigen Bewegungsmustern hastig über den Fußballplatz eilten.
„Hey, habt ihr Verstärkung mitgebracht?“, sagte er.
Die Brünette nickte. „Diesmal soll unsere Mission gelingen. Da du eh nicht überleben wirst, kannst du ruhig wissen, dass wir vorhaben, euren Planeten zu erobern, Erdling!“
„Wie jetzt? So nach dem Motto: Netter Planet – nehmen wir?“ Horst konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Die beiden waren nicht nur verrückt, die hatten sogar voll einen an der Waffel!
Doch da sah er, dass sich ein glitschig-brauner Tentakel aus dem Mund der Brünetten wand und über deren Lippen strich.
„Das sind echte Aliens!“, durchfuhr es ihn voller Schrecken und er rutschte mit dem Rücken am Wagen nach links weiter, wollte wegrennen, doch die Frauen waren inzwischen so nah, dass sie ihm den Weg versperrten.
Bei der Blonden platzte die Haut auf Kieferhöhe auf und zwei grüne Tentakel zuckten in Horsts Richtung. Dieser spürte etwas Hartes im Rücken und in ihm keimte eine Idee. Blitzschnell drehte er sich um und riss an der Klinke der Wagentür, die in seinen Rücken gedrückt hatte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Wagen offen war und hatte Glück – die Wagentür ließ sich aufreißen. Von züngelnden Tentakeln bedroht, schwang sich Horst ins Innere des Bratwurstwagens und zog die Tür hinter sich zu. Ein Handgriff und der Riegel war vorgeschoben. Horst hatte sich eine Pause verschafft, in der er sein weiteres Vorgehen überlegen konnte.
Durch die Zwischenräume der Bretter drang das Licht der Laterne zu Streifen gefiltert herein und beleuchtete den kleinen Innenraum. Es roch nach ranzigem Fett. Horst erkannte im Hintergrund die Fritteuse sowie die Hängeschränke nebst Dosenregal, den Grill direkt vor der breiten Wagenklappe und den Verkaufstresen mitsamt Ketchup- und Senf-Flaschen, Schublade und Kühlschrank. Horst zog die Lade auf und kramte im Inneren herum. Er fühlte Metall und zog einen länglichen Gegenstand heraus – ein Bratenwender.
Horst hielt sich das Instrument vor die Augen, packte zusätzlich die Senf-Flasche. Probehalber vollführte er einige Schwünge mit dem Bratenwender.
„Das sind zwar keine wirklich tollen Waffen – aber besser als gar nichts!“
Vor der Klappe tauchte ein Schemen auf. Horst richtete den Bratenwender in Richtung der Bretterschlitze aus und stach zu.
Das zweckentfremdete Kochgerät stieß durch einen der Schlitze, genau da, wo Horst die Alien-Frau vermutete. Er traf auf Widerstand und zog den Bratenwender sofort zurück. Ein entsetztes „Mmmm-mmmmm“ war zu hören. Eine Stimme zu seiner Rechten zischte von draußen immerfort ein „Wir kriegen dich! Wir kriegen dich!“ herein.
Horst wandte sich in Richtung der Stimme, presste die spitze Kappe der Senf-Flasche gegen die senkrechte Ritze in der Wagentür und drückte mit aller Kraft zu.
Mit einem furzenden Geräusch verließ der Senfstrahl die Flasche – und traf. Die Stimme wurde zu einem erstickten Gurgeln.
„Voll auf die Zwölf!“, jubelte Horst. Im nächsten Augenblick durchzuckte ihn ein Schreck – jemand schlug mit der Faust auf die Bretterwand, so dass sie erzitterte und Holzstaub in kleinen Wolken aufgewirbelt wurde.
Jetzt krachte jemand gegen die breite Tresenklappe, warf sich voller Wucht an die Bretter, Horst konnte den Schatten beim Aufprall sehen. Hinter ihm erzitterten die Hängeschränke und vom Regal fielen ein, zwei Peperoni-Dosen sowie der Sack mit dem Pommes-Gewürz. Dann kippte das Regal vollends um, krachte gegen die Klappe und verkeilte sich.
Die Verstärkung war eingetroffen!
Lange würden die Bretter das nicht mehr mitmachen, dachte sich Horst und suchte fieberhaft nach einer Lösung – vergeblich. Er war hier gefangen. Was ihm zunächst wie ein Ausweg erschienen war, entpuppte sich nun als Falle.
Doch halt!
Horst blickte nach oben. Ein dunkles Viereck an der Decke.
Die Falltür! Das war der Ausweg!
Der Fußballplatzwart stieg über die am Boden kullernden Dosen hinweg auf das schräg gekippte Regal, nutzte es als Steighilfe, um an die Dachluke heranzukommen, während um ihn herum das ohrenbetäubende Chaos in Form von Schlägen gegen die Bretterwände tobte.
Horst hörte das Geifern der Alien-Frauen, die in ihrer fremdartigen Sprache vor Wut zischten und mit den Fäusten gegen das Holz hämmerten. Er hörte das raue Geräusch von Tentakeln, deren schorfige Haut über das Holz raspelte, nach Schwachstellen suchend.
Er machte sich an der Verriegelung der Luke zu schaffen. Nur ein Schnappriegel, Federmechanismus. Zurückziehen, Luke hochstemmen, fertig. Horst gelang es nicht, die Luke geräuschlos auf dem Dach des Wagens abzulegen. Sie rutschte ihm durch die Finger. Das Krachen war zwar nicht lauter als der Lärm, der von unten heraufdrang, dennoch mussten es die Frauen gehört haben, denn die Schläge hörten sofort auf.
Horst warf Bratenwender und Senf-Flasche auf das Dach, dann hebelte er sich empor, wälzte sich herum und landete flach auf dem Dach.
„Wir kriegen dich! Wir kriegen dich!“ Der fremdartige Akzent der Stimmen, die sich mit den ihnen unvertrauten menschlichen Lautorganen abmühten, war unüberhörbar.
Horst stand auf. Er tat einen Schritt, lehnte sich vor und wagte einen Blick nach unten.
Dort stand die Blondine. Als sie ihn erkannte, hüpfte sie ihm entgegen und versuchte ihn mit scharfen Krallennägeln zu packen. Doch die Nägel schlossen sich vergeblich in der Luft. Das leise Klackern machte Horst mehr Angst als die Schläge von vorhin.
Er sah sich um. Die Frauen waren überall. Auf jeder Seite des Wagens mindestens eine. Horst zählte sechs Alien-Frauen. Drei Blondinen, drei Brünette. Gesichter wie Zwillinge. Klone vielleicht?
Horst kniete sich an einer Seite des Wagens nieder und bückte sich, um zu testen, wie schnell die Wesen reagieren konnten.
Blitzschnell war die Frau bei ihm und hatte seine Linke gepackt, ehe er reagieren konnte. Horst ließ instinktiv die Senf-Flasche los und presste seine frei gewordene Hand, die über und über mit Kreidestaub bedeckt war, dem Frauen-Alien ins Gesicht.
Die Gestalt kreischte auf. Ihr Griff lockerte sich.
Horst spürte, dass seine Kraft nicht ausreichen würde und zog die Hand zurück. Auf dem Gesicht der Frau zeigten sich rote Striemen, wo Horsts Finger gewesen waren.
Er zog das rechte Bein an und trat zu.
Mit voller Wucht krachte der Schuh dem Alien ins Gesicht. Es knackte vernehmlich, als das Nasenbein brach, dann löste sich der Griff um seine Hand. Horst war wieder frei.
Wie ein Insekt kroch er auf allen Vieren rückwärts in die Mitte des Wagendachs und überlegte fieberhaft. Und dann hellte sich seine Miene auf. In ihm keimte ein Funken Hoffnung.
Wenn er es nur schaffen könnte, an den Frauen vorbei zu kommen …!
Er schritt nach vorn, sofort stürmten sie an der Vorderseite zusammen und griffen mit lackierten Nägeln nach ihm, zerkratzten seine Socken und trieben in seine Knöchel rote Furchen, die sich schnell mit Blut füllten.
Horst schrie und trat, schlug mit dem Bratenwender auf die nach ihm ausgestreckten Hände der Fremdwesen, die sich mit Frauenhaut getarnt hatten. Horst sah, wie ihnen die übergestreifte „Kleidung“ an allen Ecken und Enden zwickte. Er erkannte, wie die Frauen an sich herumzupften, um die Haut in die richtige Position zu bekommen, bemerkte, wie so manche Naht riss und kleine Tentakel herauszüngelten.
Doch egal, wohin er sich auch bewegte – nirgendwo war an ein schnelles Herabklettern zu denken. Nun musste sein Plan B zur Anwendung kommen.
Horst trat so weit zurück, wie er nur konnte, ohne von den geifernden Tentakeln und suchenden Händen erfasst zu werden. Dann schleuderte er den Bratenwender weit nach vorn, atmete tief durch – und spurtete los.
Der Anlauf war nur kurz, und dennoch hoffte der Fußballplatzwart darauf, dass das Glück ihm hold blieb. Als er am Rand des Daches angekommen war, riss er die Arme nach hinten, drückte die Beine kräftig ab, schwang die Arme nach vorn – und sprang!
Hoch flog er über die Gesichter der Frauen-Wesen, die ihm mit offenen Mündern verblüfft zusahen. Für einen Moment fühlte sich Horst, als könnte er fliegen. Er lächelte. Dann zog ihn die Schwerkraft unbarmherzig nach unten.
Mit einem Schlag, der seinen ganzen Körper durchfuhr, krachte er auf. Horst federte zwar den Aufprall mit den Beinen ab, hatte aber so viel Vorwärtsdrall, dass er eine Hechtrolle vollführen musste, um sich nicht zu verletzen. Noch im Rollen griff er sich den Bratenwender, um im Notfall eine Waffe bei sich zu haben. Doch als er sich wieder emporschraubte und nach hinten sah, wusste er, dass sie nutzlos sein würde.
Alle sechs Alien-Frauen torkelten bereits auf ihn zu.
Horst rannte los, schwang sich auf das Geländer der Treppe und rutschte zum Fußballplatz hinab. Dort angekommen wollte er sofort weiterrennen, aber sein Fuß knickte um, so dass der Mann nach vorn fiel. Instinktiv rollte er sich über die Schulter ab und bemühte sich so schnell wie nur irgendwie möglich wieder auf die Beine zu kommen. Umsonst. Flach blieb er liegen.
Schmerzen durchzuckten ihn wie Stromschläge.
„Weiter, nicht aufgeben!“, spornte er sich selbst an und mühte sich hoch. Es gelang ihm nur unter Aufwendung aller Kräfte.
Hinter sich hörte er die Alien-Wesen, wie sie kreischend versuchten, das Hindernis namens „Treppe“ zu überwinden. Er blickte nach hinten.
Die Frauen kämpften sich verbissen seitlich hinab, die Hände am Geländer, die ausgestreckten Beine nach hinten von Stufe zu Stufe setzend. Eine knickte um, schrie furchtbar gellend auf und fiel sich überschlagend die Treppe hinunter. Mit einem hässlichen Knacken schlug sie unten auf, nur zwei Meter von Horst entfernt.
Dieser wartete nicht länger, sondern lief los. Der Schmerz beim ersten Schritt war unvorstellbar. Horst atmete tief durch. Es trieb ihm Tränen in die Augen. Doch er kam voran. Schon beim zweiten Schritt ging es ein klein wenig besser.
Der Mittelkreis schien dennoch eine Unendlichkeit entfernt zu sein. Der Weg zum Karren kam ihm so lange vor wie bis zum nächsten Stern in der Galaxie.
Ein Blick zurück zeigte ihm, dass er keine Zeit verlieren durfte. Die Frauen hatten es geschafft, die Treppe hinabzusteigen und torkelten nun in steifen Bewegungen wie Zombies über den Rasen.
Horst verstärkte seine Bemühungen, schritt forscher aus. Doch er ahnte, dass es nicht reichen würde.
Die Hälfte der Distanz lag hinter ihm, aber die Frauen holten mehr und mehr auf. Er hörte das ständige „Wir kriegen dich! Wir kriegen dich!“ und das Grauen kroch an seiner Wirbelsäule in Form einer Gänsehaut auf und ab.
Das Gezischel und Gewirbel der in der Luft herumzuckenden Tentakel entnervte ihn zusehends.
„Bitte, lieber Gott – lass mich durchhalten! Nur noch bis zum Anstoßpunkt!“
Und er hinkte weiter.
Schon vermeinte er den fauligen Atem der Frauen in seinem Genick zu spüren, als es geschah: Horst strauchelte, ruderte mit den Armen und fiel.
Mit den Armen fing er den Sturz ab, dabei ritzte er sich mit dem Bratenwender an der Stirn. Durch eine Mischung aus Tränen und Blut sah er nach vorn. Dort war der Karren, den er am Mittelpunkt zurückgelassen hatte. Horst kroch verbissen darauf zu. Den Bratenwender benutzte er hierzu als Hilfe, rammte ihn in den Boden und zog sich daran weiter.
Die Geräusche der Frauenwesen waren nun ganz nah.
„Nur noch bis zum Anstoß!“
Einrammen, weiterziehen!
Einrammen, weiterziehen!
Jemand kratzte ihm über die Wade. Er zog das Bein weg. Der Karren ragte als schwarzer Kasten riesengroß vor ihm auf.
Einrammen, weiterziehen!
Ein metallisches „Klong“ begleitete den Moment, als Horst mit der Stirn an den Karren stieß.
Hektisch griff er nach oben, suchte fieberhaft nach dem Rand des Trichters und versuchte, sich daran empor zu ziehen. Es gelang ihm nicht. Verzweifelt hing Horst mit beiden Händen am Karren.
Schon glaubte er, dass sich die Frauen auf ihn stürzen würden, als der Wagen die Belastung nicht mehr aushielt. Der Karren kippte um und begrub Horst unter einem Berg an Kreidestaub!
Sofort packte er zu, wälzte sich herum und blinzelte den Staub hinfort.
Verschwommen sah er die torkelnden Schatten riesengroß über sich. Sie bückten sich zu ihm herab, streckten geifernde Tentakel und klackernde Fingernägel nach ihm aus.
Das Ende der Welt war weiblich und besaß rotlackierte Nägel!
Zwischen der Alien-Invasion und der Menschheit stand nun nur noch einer – Horst, der Fußballplatzwart!
In dem Bewusstsein seiner Verantwortung für die Menschheit nahm Horst alle Kraft zusammen und schleuderte den Aliens mit beiden Händen eine Ladung Kreidestaub entgegen.
Die Wirkung war geradezu unbeschreiblich!
Ein vielfach gebrochener Schrei gellte über den Fußballplatz. Mit einem Schlag ließen die Aliens von ihm ab. Horst sah, wie sie sich die Gesichter rieben, um den Staub daraus zu entfernen. Die Frauen knickten ein, fielen auf die Knie und heulten vor Schmerz. Die Tentakel aus ihren Mündern und aus den Nahtstellen zuckten wie irr. Dann fielen die Frauen auf den Rasen und krümmten sich zusammen.
Horst gab ihnen den Rest!
Er tauchte erneut die Fäuste in die Kreide, erhob sich mühsam auf die Beine und streute den Staub über den am Boden liegenden Körpern aus. Wo die Kreide auftraf, zischte es und Dampfschwaden trieben über den Rasen.
Die Alien-Frauen schmolzen wie Schnecken, die man mit Salz bestreut hatte. Kleiner und kleiner wurden sie, bis sie schließlich in den Boden einsickerten und verschwunden waren. Nur ein übler Gestank schwebte noch einen Moment lang in der Luft, ehe ihn ein Windhauch fortwehte.
Und über allem thronte breitbeinig und mit Kreidestaubfäusten: Horst, der Fußballplatzwart. Der Bratenwender in seiner Rechten zitterte zwar und Horsts Gesicht war schmerzverzerrt, aber dennoch hielt er sich aufrecht.
„Etwas Gutes hat die Sache immerhin: Niemals vorher war der Rasen am Mittelpunkt so intensiv gedüngt wie heute.“
Horst griff sich seine Zigaretten. Nachdenklich betrachtete er die Packung. Kurz entschlossen zerknüllte er die Marlboro-Schachtel und warf sie in den Kreidestaub.
Mit einem Achselzucken drehte sich um und verschwand in der Nacht.

Irgendwo draußen im Orbit um die Erde warteten die Aliens in ihrem waffenstarrenden Invasionsschiff auf eine Rückmeldung des sechsköpfigen Bodenteams.
Vergeblich.

ENDE


„Sommerschnee“ erschien zuerst 2012 in „Schock!“ (Atlantis). (C) 2020 Markus K. Korb

Markus K. Korb wurde 1971 in Werneck bei Schweinfurt (Unterfranken/Bayern) geboren. Seit rund zwanzig Jahren veröffentlicht er Kurzgeschichten in Magazinen und Sammlungen, und auch als Herausgeber tat er sich hervor.  Zuletzt erschien im April 2019 im Verlag Torsten Low die Sammlung „Das raunende Wrack“. Sie enthält Vignetten, Kurzgeschichten, Novellen und experimentellere Strukturen von Geschichten. Auch hat er hierin einige Texte in überarbeiteter Form neu aufgelegt, die nicht mehr erhältlich waren. Markus K. Korb wurde für sein Werk unter anderem mit dem Deutschen Phantastik Preis, dem Vincent Preis und dem Marburg-Award ausgezeichnet.