Wilson, Robert Charles: Julian Comstock (Buch)

Robert Charles Wilson
Julian Comstock
(Julian Comstock – A Story of 22nd Century America, 2009)
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hendrik P. und Marianne Linckens
Heyne, 2009, Taschenbuch, 670 Seiten 8,95 EUR, ISBN 978-3-453-52566-5

Von Gunther Barnewald

Das Buch beschreibt die Ereignisse, die sich im US-Amerika von 2172 bis 2192 abspielen, nachdem das Versiegen der Ölquellen und die darauf erfolgende Krise die Menschheit in ihrer Entwicklung schwer getroffen und beeinträchtigt hat. Die USA bestehen inzwischen aus 60 Staaten, sind jedoch längst keine Demokratie mehr. Stattdessen beherrscht ein Diktator, unterstützt von mächtigen christlichen Verbänden, das Land. Meinungs- und Religionsfreiheit gibt es längst nicht mehr, dafür aber wieder Leibeigenschaft.
Mit den technischen Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts leben und sterben die Menschen. Während die Großstädte in den Abendstunden meistenteils über Energie verfügen, lebt man auf dem platten Land als Untertan mächtiger Großgrundbesitzer und der Kirche.
Hier wächst Adam Hazzard auf, Sohn eines armen Pächters, aber immerhin kein Leibeigener. Sein Glück oder Pech ist es, dass er den jungen, fast gleichaltrigen Julian Comstock kennenlernt, den Neffen des derzeitigen Herrschers. Dieser versteckt sich vor seinem Onkel, ist dieser doch gewillt, alle Verwandten, die ihm dereinst seinen Titel streitig machen könnten, auszulöschen.

Als Julian 17 Jahre alt ist, wird es dringend für den Diktator, etwas gegen seinen Neffen zu unternehmen, und da die USA sowieso gerade Krieg gegen die Mitteleuropäer um Labrador führen, beschließt der Diktator Truppen in der Provinz ausheben zu lassen. Trotz Flucht entkommen auch Julian, Adam und Julians Mentor Sam nicht der Zwangsrekrutierungen und landen bei der Truppe.
In Labrador herrschen Zustände wie im US-amerikanischen Bürgerkrieg, mit dessen Mitteln die genauso weit entwickelten Mitteleuropäer unter Führung der Deutschen (weshalb sie von den Soldaten auch immer als »Die Deutschen« subsumiert werden, wenn es sich auch oft um Holländer, Belgier oder Menschen ähnlicher Nationalitäten handelt) gegen die gleichwertigen US-Amerikaner kämpfen.
Mit viel Glück entkommen die drei Protagonisten allen Gefahren und Julian gelingt ein beeindruckender militärischer Aufstieg, nachdem ein Führungsoffizier getötet wird und der junge Mann das Kommando über die versprengte Gruppe ergreift. Er wird zum Helden und damit erst recht zur Gefahr für den Onkel, der ihn zur Feier seiner Heldentat zwar nach New York kommen lässt, jedoch schon die nächste tödliche Intrige in der Hinterhand hat …

Ich-Erzähler der Handlung ist Adam Hazzard, der sich vom angehenden Schriftsteller zum Bestseller-Autor mausert und voller Aufrichtigkeit versichert, er wolle Julians Biographie schreiben, bevor es seine politischen und vor allem religiösen Gegner tun. Aber zum Glück für den Leser stellt der Autor eher sich und die Abenteuerlichkeit des Erlebten in den Mittelpunkt, was man von einem Abenteuer-Schriftsteller auch nicht anders erwarten durfte.
Mit diesem Kniff ist Robert Charles Wilson ein genialer Schachzug gelungen, denn seine Geschichte bleibt so nicht nur durchgängig spannend (was ob der Seitenzahl des Romans gar nicht einfach ist), sondern er erschafft damit auch glaubhafte und lebensechte Protagonisten, mit denen der Leser sich problemlos identifizieren kann, so echt wirken sie.
Zwar unterscheidet sich das vorliegende Werk kaum von Romanen, die im US-amerikanischen Bürgerkrieg spielen, und manchmal reibt sich der Leser verwundert die Augen und fragt sich, warum die Geschichte in 22. Jahrhundert spielen soll. Aber verbotene Bücher aus der Zeit vor dem Versiegen der Ölquellen, die in den teilweisen Ruinen der Großstädte aber immer wieder gefunden werden und die von den mächtigen religiösen Führer verboten worden sind, weisen darauf hin, dass »Julian Comstock« tatsächlich in der Zukunft spielt.
Zudem ist die Geschichte natürlich auch voller Anspielungen auf die bedrückende Ära Bush und deren Engstirnigkeit und den verbreiteten religiösen Fanatismus, der sich in der heutigen USA oft findet. Dass also nach einem wirtschaftlichen Zusammenbruch (man denke auch an die aktuelle Bankenkrise, die hätte ausufern können) genau diese starke religiös-fundamentalistische Fraktion die Macht ergreifen könnte, erscheint deshalb umso plausibler. Schade nur, dass der Autor es nicht gewagt hat, die zukünftige USA als Gottesstaat christlicher Prägung analog der Herrschaft der Taliban anzulegen (aber dafür ist Bush wohl noch nicht zu lange oder gar zu wenig geistig entmachtet in den USA, vielleicht kommt ein solches Werk noch dereinst, würde sich heute dort noch nicht verkaufen lassen, selbst unter SF-Fans).
Insgesamt ist Wilson ein unterhaltsames und einigermaßen hintergründiges Werk gelungen, wobei man dem Autor immer wieder anmerkt, dass ihm die Subtilität und die Geschicklichkeit großer Schriftstellerkollegen fehlt, denn zu sehr konzentriert sich die Handlung auf die Kriegserlebnisse der Helden, zu wenig auf gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge. Aber ganz im Sinne des Ich-Erzählers ist es damit eine extrem lesbare Geschichte geworden, die auch einfacheren Gemütern zugemutet werden kann, welche bei zu vielen Fakten oder Hintergründen sicherlich abspringen würden.

Ein großes Lob auch für die Übersetzer, die mutig mit Fußnoten arbeiten, um dem deutsche Leser die ein oder andere literarische Anspielung des Autors nahezubringen, der seinerseits selbst auch immer wieder zu diesem Mittel greift, was ja, wie man seit Jack Vance weiß, nicht immer Gift für den Lesefluss, sondern manchmal auch purer Lesegenuss sein kann.