Jessica Warman: Manche Mädchen müssen sterben (Buch)

Jessica Warman
Manche Mädchen müssen sterben
(Between, 2011)
Titelbild: Brittany Smith
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Kasprzak
Penhaligon, 2011, Paperback, 414 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-7645-3069-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Liz Valchar führt ein Leben, um das sie jeder beneidet: Ihre Familie ist reich und glücklich, Stiefschwester Josie ist zugleich ihre beste Freundin. Außerdem ist Liz hübsch, allseits beliebt, natürlich gehört sie der am meisten angesagten Clique von Noank an und geht mit dem heißen Richie Wilson, dem Sohn der Nachbarn.

Aber warum ist sie plötzlich tot, und ihr Geist schwebt über ihrer Leiche? Und wer ist Alex Berg, der plötzlich auftaucht, ebenfalls gestorben ist, sie überhaupt nicht leiden kann, aber dennoch zu ihrem Begleiter in diesem Dazwischen („Between“), einer Welt zwischen Dies- und Jenseits, wird? Liz hat viele Gedächtnislücken, die nach und nach aufgefüllt werden. Sie beobachtet, wie die Menschen, die ihr nahe standen, nach dem Verlust ihr Leben weiterführen, und regelmäßig reist sie in ihre Vergangenheit zurück. Vieles, was Liz vergessen oder verdrängt hat, nimmt sie nun bewusst wahr und sieht die Dinge in einem völlig anderen Licht. Dabei wird ihr klar, dass ihr perfektes Leben eine Farce war. In ihrer Familie kriselt es, die Freunde und sogar Josie hatten Geheimnisse, und sie selber lud eine schwere Schuld auf sich, an der sie letztlich zerbrach. Aber war Liz‘ Tod wirklich ein tragischer Unfall?

An sich sind Geschichten, die aus der Perspektive eines Verstorbenen geschildert werden, Geschmackssache, denn ein Happy End ist von vornherein ausgeschlossen, sofern der Autor nicht durch Seelenwanderung oder Wiedergeburt für eine zweite Chance sorgt. Das Ende wird vorweg genommen, und was bleibt, ist, das Rätsel um das, was geschehen ist, aufzurollen und die einzelnen Fragmente wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Dafür hätte es aber keine beobachtenden Geister bedurft – man hätte auch im „Columbo“-Stil einen Lebenden auf die Suche nach Antworten schicken können, doch wäre eine solche Inszenierung sehr viel aufwändiger gewesen. Jessica Warman entschied sich für den einfacheren Weg und konnte auf diese Weise ihren Lesern – Jugendliche und junge Erwachsene – Identifikationsfiguren in ungefähr demselben Alter mit nachvollziehbaren Problemen offerieren.

Allerdings ist Liz zunächst niemand, den man sonderlich sympathisch findet, da es sich bei ihr um eine typische Cliquen-Zicke handelt, die sich nur dank ihrer Gesinnungsgenossen stark fühlt und mit diesen zusammen auf anderen herumhackt. Sie ist selbstsüchtig und oberflächlich, interessiert sich nur für materielle Dinge, ihr Aussehen und ihr ‚cooles‘ Image. Ganz anders Alex Berg, der als ihr komplettes Gegenteil konzipiert ist, aber dadurch, dass er Liz trotz ihrer Situation spüren lässt, was sie für ein ‚Miststück‘ war, nicht wirklich punkten kann. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, gehörte stets zu den Opfern der Clique und kam durch einen Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Bevor sie ruhen dürfen, müssen beide herausfinden, was wirklich passiert ist und sich weiterentwickeln. Dazu gehört, begangene Fehler einzusehen und zu bereuen, verzeihen und loslassen zu können.

Obwohl die Schicksale von Liz und Alex miteinander verknüpft sind, konzentriert sich die Autorin in erster Linie auf die Lebensumstände der Protagonistin. Mehr und mehr wird das Leben der Schönen und Reichen als leer, verlogen und gar nicht so erstrebenswert entlarvt; Liz und ihre Freunde werden zu Opfern der Gesellschaft gemacht: Die Eltern werden als Egoisten gezeichnet, für die gutes Aussehen, Geld und Status an erster Stelle stehen. Was sie haben wollen, das nehmen sie sich einfach – ohne Rücksicht auf andere. Den Kindern bieten sie alles, was diese sich wünschen, nicht aber Verständnis und Zuwendung, und Grenzen werden ihnen überhaupt keine gesetzt. In logischer Konsequenz eifern die jungen Menschen ihren ‚Vorbildern‘ nach; sie kennen es nicht anders. Um dazu zu gehören, nehmen sie vieles auf sich, angefangen beim aufwändigen und teuren Styling über Diäten, die Essstörungen nach sich ziehen, und extreme, den Körper belastende Trainingsstunden bis hin zur Teilnahme an mehr als fragwürdigen Aktionen. Wer ausschert, läuft Gefahr, plötzlich zu den Losern zu gehören, die von der Clique gequält werden.

Arme, reiche Kids!? Nicht wirklich, obwohl die Autorin für Verständnis wirbt und die Schuld an den Problemen der Jugendlichen den Eltern, den Vertrauenspersonen (Lehrer), die die Augen verschließen, dem Gruppenzwang und der Gesellschaft gibt – schließlich sind die Betroffenen nicht dumm, sie wissen sehr wohl, was richtig und falsch ist, sie haben die Wahl. Aber es ist ihnen egal. Dabei zu sein, den leichten Weg zu gehen und Spaß, auch auf Kosten anderer, zu haben, ist das Einzige, was zählt. Erst muss etwas Schlimmes passieren, um manche zum Umdenken zu veranlassen, während andere schon zu sehr in dem Strudel gefangen sind, der sie immer tiefer herab zieht und aus dem es, ohne fremde Hilfe, kein Entrinnen mehr gibt. Richie und Josie sind die Beispiele dafür.

Jessica Warman versteht es, durch ihren angenehmen Stil und einen geschickten Handlungsaufbau die Leser in den Bann zu ziehen. Ihre Charaktere und deren Dialoge sind glaubwürdig, das Puzzle ist spannend. Man ist schon nach wenigen Seiten gefangen und möchte wissen, was für ein Mensch Liz gewesen und was ihr zugestoßen ist.

Das erfahrene Publikum zählt Eins und Eins freilich schnell zusammen, wird aber durch die Details und unerwartete Zusammenhänge immer wieder überrascht. Hier meint es die Autorin leider schon etwas zu gut, denn sie packt mehr Probleme in die Handlung, als unbedingt notwendig ist. Was jemandem auch nur zustoßen kann, das alles trifft die Hauptfigur: der frühe Tod der kranken Mutter, die von Gerüchten belastete Beziehung zwischen ihrem Vater und dessen zweiter Frau, Magersucht, ein Freund, der Drogen nimmt und dealt, eine falsche Freundin und, und, und…

Letztlich werden alle Fragen beantwortet. Der Leser ist zufrieden und wird die ergreifende Lektüre sicher nicht so bald vergessen. Gefällt das Thema, sollte man sich „Manche Mädchen müssen sterben“ nicht entgehen lassen.