Philip Pullman: Über den wilden Fluss (Buch)

Philip Pullman
Über den wilden Fluss
(La Belle Sauvage, 2017)
Übersetzung: Antoinette Gittinger
Titelbild: Bruno Gentile
Carlsen, 2017, Hardcover, 556 Seiten, 24,00 EUR, ISBN 978-3-551-58393-2 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Malcom ist ein typischer Junge seiner Zeit. Ein elfjähriger Lausbub, dabei aber doch gewissenhaft und auch verantwortungsbewusst hilft er seinen Eltern in ihrem Gasthaus nahe Oxford jeden Abend in der Gaststube. Daneben rudert er, so es seine Zeit ermöglicht, gerne zu dem Nonnnenkloster über den Fluss, um dort den gottesfürchtigen Frauen ein wenig zur Hand zu gehen.

Eines Tages kommen drei ehrwürdige Honoratioren in das Gasthaus. Malcoms Vater meint in einem von ihnen den ehemaligen Premierminister zu erkennen. Während Malcom die Herren in einem Nebenraum bedient, wird er regelrecht ausgefragt - über sein Leben fernab der Metropole, was er so anfängt mit seiner Zeit und über das Kloster. Ob da vielleicht kürzlich ein Baby in Obhut der Bräute Gottes gegeben wurde, wollen die Herren wissen.

Und wirklich, kaum fragt er am nächsten Morgen eine der Nonnen, erfährt er, dass Lyra Belacqua dort vor den Heimsuchungen durch böse Mächte und finstere Männer in Sicherheit gebracht wurde.

So weit her ist es aber weder mit der Geheimhaltung noch der Sicherheit. Geheimagenten tauchen auf, finstere Kerle und es kommt, wie es kommen muss: Die Katastrophe tritt ein und Malcom sieht sich, zusammen mit der fünfzehnjährigen Küchenhilfe Alice, vor der größten Aufgabe seines Lebens - zusammen mit dem geretteten Kleinkind, und natürlich begleitet von ihren Dæmonen, fliehen sie auf Malcoms Kanu, der“ La Belle Sauvage“ die Themse hinab…


Mit seiner Trilogie „His Dark Materials“ eroberte Philip Pullman die Herzen der Leser. Die Mischung aus der überzeugenden Beschreibung eines ländlichen Lebens und ganz eigener Erfindungen verbunden natürlich mit einer immer abenteuerlicher werdenden Handlung, erwies sich als Pageturner. Dies liegt auch an der Gabe Pullmans, in einer sehr gefälligen, stilistisch unauffälligen aber doch sehr versiert eingesetzten Sprache zu schreiben. Kritiker bemängelten immer seine Detailversessenheit und bildhafte Erzählweise, mir jedoch lagen seine zum Teil ausufernden Beschreibungen. Dem ersten wahrhaft überwältigenden Band folgten zwei Fortsetzungen, die leider das Niveau nicht ganz halten konnten.

Natürlich dürfen vorliegend die Seelenwesen wiederum nicht fehlen, aber auch skurrile Erfindungen haben, wie nicht anders zu erwarten, ihren Platz und ihre Bedeutung im Plot.

Inhaltlich erzählt uns der Verfasser die Vorgeschichte zum Goldenen Kompass. Dabei wechseln sich Kapitel, in denen die Handlung vorangetrieben wird, in denen auch das Tempo anzieht und die Dramatik hoch ist, mit längeren Passagen ab, in denen der Plot eher ruhig dahinplätschert. Diese Kapitel nutzt Pullman intensiv um uns seine Charaktere vorzustellen, diese immer weiter und detailreicher auszubauen und fortzuentwickeln. Aber Achtung, immer wieder versteckt der Autor gerade in diesen Passagen wichtige Hinweise und Indizien, die später wichtig werden.

Immer noch ein Schwerpunkt ist die Weltenzeichnung Pullmans. Das atmet Realität, zeigt uns das idyllische Bild eines einfachen Lebens auf dem Lande, ergänzt durch Fantasy-Einflüsse, ohne dabei langweilig zu wirken.

Das Pfund mit dem Pullman wie üblich wuchert, sind seine jugendlichen Figuren, deren Charakter und Entwicklung er mustergültig und überzeugend schildert. Gerade die Flucht auf der nicht begradigten, immer wieder von Stromschnellen und Wirbeln unterbrochenen Themse symbolisiert dabei, quasi als Metapher, das Erwachsenwerden der Personen. Wie der Fluss ist das Leben kein langsamer, in einer Geschwindigkeit ablaufender Vorgang, sondern wird immer wieder durch chaotische, unruhige Zeiten unterbrochen und beschleunigt, bevor es dann wieder in ruhigere Gewässer mündet.

Fazit: Auch wenn das Prequel, dem noch zwei weitere Romane folgen sollen, nicht an den Goldenen Kompass und dessen Fortsetzungen heranreicht, zeigt das Buch doch wieder die besonderen Stärken Pullmans in der Zeichnung seines Handlungsortes und der sich fortentwickelnden Personen. Die Kenntnis der späteren Trilogie ist zur Lektüre nicht notwendig.