Tim Curran: Der Leichenkönig (Buch)

Tim Curran
Der Leichenkönig
(The Corpse King, 2010)
Übersetzung: Ben Sonntag
Titelbild: Arndt Drechsler
Festa, 2017, Paperback, 222 Seiten, 12,80 EUR, ISBN 978-3-86552-526-0 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Edinburgh im frühen 19. Jahrhundert ist nicht eben ein Schlaraffenland für die vom Schicksal weniger gut bedachten Menschen. Abgesehen vom Adel und den wenigen Industriellen fristen die Menschen ein karges, von Not, Verbrechen, Hoffnungslosigkeit und Seuchen bestimmtes Dasein. Die Frauen verdingen sich als Huren, die Männer rutschen scheinbar unweigerlich ins Verbrechen ab. Nur der billige Gin verschafft den Tagedieben ein wenig Erleichterung in ihrem tristen Dasein.

Doch einigen Wenigen aus der untersten Schicht geht es vergleichsweise gut. Sie verdingen sich als Leichensammler, besorgen den ständig wissbegierigen Universitäten und Gelehrten menschliches Anschauungsmaterial. Die wenigen verurteilten Mörder, die von Gesetzes wegen den Forschern überlassen werden, reichen bei weitem nicht aus, den Bedarf zu decken. So ziehen sie allabendlich auf die Friedhöfe. Immer auf der Flucht vor dem Auge des Gesetzes, werden die frisch Verstorbenen aus ihren Gräbern gerissen und diese wieder so hergerichtet, dass der Raub nicht zu erkennen ist. Die Grabräuberei hat sich zwischenzeitlich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt, immer mehr illegale Unternehmer drängen auf den umkämpften Markt.

Samuel Clow und Mickey Kierney sind alte Hasen im Geschäft mit den Leichen. In ihrem heruntergekommenen Heim lagern sie ihre Beute im Keller, bis diese einen Abnehmer findet. Frische Leichen gehen am Besten, Kinder noch besser, aber auch ältere Verblichene werden gekocht um ihr Gerippe zu veräußern. Gleich Wagenweise liefern sie ihre Beutezüge bei den Chirurgen und Ärzten ab und leben gut davon. An die Gase, die den Leichen entströmen, haben sie sich gewöhnt, auch wenn selbst sie als abgebrühte alte Hasen so manches Mal ins Schaudern kommen, wenn die verbuddelten nicht veräußerbaren Reste von den Methanblasen an die Oberfläche ihres Kellers getrieben werden.

Doch auch sie müssen schauen, dass sie noch möglichst gut erhaltene, das heißt frische Leichen ausgraben und Abnehmer finden. Die schiere Not der zunehmenden Konkurrenz zwingt sie letztlich dazu, auf die Nördlichen Felder auszuweichen. Hier soll, Gerüchten zufolge, der Leichenkönig regieren. Ein mysteriöses Wesen, das im Untergrund lebt und über die weitverzweigten Stollensysteme Gräber, Mausoleen und Leichengruben ausraubt. Und dann ist ihre Glückssträhne zu Ende. Der Leichenkönig heftet sich auf ihre Spuren und fordert seinen Tribut…


Bereits 2011 erschien vorliegende Novelle im Atlantis Verlag zum ersten Mal auf Deutsch. Dass sich Frank Festa entschloss, die Geschichte um die beiden Wiedererwecker neu aufzulegen wird der Leser verstehen, wenn er die umfangreiche Novelle goutiert. Selten habe ich einen Text gelesen, der nicht nur gruselt, sondern auch historisch mustergültig recherchiert atmosphärisch dicht unterhält.

Fangen wir mit den Hauptpersonen an. Beide werden von Curran sehr treffend und pointiert gezeichnet und mit Leben gefüllt. Gerade in ihren Dialogen, in denen sie zutiefst makaber aber auch sarkastisch einander auf den Arm nehmen, ihre Familien treffend porträtieren und sich ob der Schrecken - denen sie Nacht für Nacht ausgesetzt sind - gegenseitig Mut machen, erreichen sie eine selten gelesene Lebendigkeit. Dazu kommt, dass Curran es versteht Atmosphäre zu schaffen. Und dies ohne auf die sonst so weit verbreiteten Gore und Gewalt zurückzugreifen. Das Grauen der Verblichenen, die Trostlosigkeit der Verarmten, die Unwirtlichkeit der Friedhöfe vermitteln uns höchst erfolgreich das, was wir in einem Horror-Roman suchen: Gänsehaut, Grusel und Angst.

Die Beschreibung des Lebens zur damaligen Zeit wirkt mehr als überzeugend, ja wir werden förmlich in die Tristesse und Verwahrlosung hineingezogen. Unwillkürlich ducken wir uns, weil wir befürchten, dass ein Bewohner seinen Nachttopf über der Gasse in die der Autor uns entführt, entleert, ekeln uns über die als so alltäglich beschriebenen Lebensumstände der verarmten Bevölkerung. Verroht und vulgär sind diese, nur der Gin hilft, das Leben zumindest ansatzweise erträglich zu halten, der Tod ist eher Erlösung als gefürchtetes Ende. Morbide kommen uns die Beschreibungen auf den ersten Blick daher vor, dann bemerken wir, wie überzeugend der Autor hier nicht nur seine Figuren in dieser Umgebung agieren und leben lässt, sondern auch, wie wirklichkeitsnah die Schänken und Leichenacker wirken.

Das ist bester schauriger Grusel von einem Meister seines Fachs. Neben dem Vorwort des Autors sowie einem kurzen Interview mit diesem hat der Verlag dem Band auch noch die Kurzgeschichte „Die Leichenräuber“ von Robert Louis Stevenson beigegeben.