From Hell (Comic)

From Hell
Autor: Alan Moore
Zeichner: Eddie Campbell
Mitwirkender Zeichner: Pete Mullins
Übersetzung: Gerlinde Althoff
Lettering: Matthias Rottler, Torsten Tag, Amigo Grafik
Cross Cult, 2008 Hardcover, 604 Seiten, 49,80 EUR, ISBN 978-3-936480-53-5

Von Christel Scheja

Jack the Ripper ist auch heute noch einer der populärsten Serienkiller der Geschichte, auch wenn es sicherlich andere und teilweise grausamere Mörder gegeben hat. Im Gegensatz zu den meisten von diesen ist er allerdings niemals wirklich gefasst worden, seine Identität blieb bis heute ungeklärt.

Da sich seit damals immer wieder Sensationsreporter und Schriftsteller mit den vier Tötungen von Prostituierten im Londoner Viertel Whitechapel beschäftigt haben, haben sich Wahrheit und Vermutungen immer mehr zu einer eigenständigen Mythologie vermischt.
Und so geben gerade heute viele Theorien und Mutmaßungen zu seiner mutmaßlichen Identität und möglichen Motiven, die eine wilder als die andere, aber nur selten ohne Hand und Fuß ist. Dazu gehört auch die These, dass der Täter entweder aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft, vielleicht sogar der königlichen Familie stammt oder zumindest sehr eng mit diesen verkehrt hat.
Genau diese Überlegungen greifen Alan Moore und Eddie Campbell in ihrem Mammutwerk »From Hell« auf, das nicht nur über zehn Jahre in Heftform veröffentlicht, sondern auch im Jahr 2001 mit Jonny Depp verfilmt wurde. Bei Cross Cult ist nun die ausführlich kommentierte Gesamtausgabe erschienen.

Alles beginnt mit dem jungen Künstler Walter Sickert, der sich in Annie Crook, eine junge Verkäuferin aus einem Süßwarenladen, verliebt und eine mehrjährige Affäre mit ihr hat. Er zeugt mit ihr die Tochter Alice Margaret und will sie schließlich sogar heiraten.
Das junge Glück wird jäh zerstört, denn schon kurz nach dem Freudentag wird Walter verhaftet und Annie in ein Irrenhaus verschleppt, wo man ihren Verstand vergiftet. Sie erfährt deshalb niemals, dass Walter Sickert kein Bürgerlicher ist, sondern in Wirklichkeit aus dem Hochadel stammt. Er ist eigentlich Prinz Eddy, einer der Enkel von Königin Viktoria.
Das Kind bleibt allerdings verschwunden. Annie Crook hatte es genau an diesem Tag in die Obhut einer guten Freundin gegeben, der Prostituierten Marie Kelly. Und die Irin ist nicht so leicht zu finden, wie gedacht.
Damit das Ganze nicht noch weiter zu einem öffentlichen Skandal wird, beauftragt die alternde Königin ihren Leibarzt Sir William Gull, dezent dafür zu sorgen, dass alle Mitwisser mundtot gemacht werden. Wie, dass überlässt sie ihm. Sie ahnt nicht, dass sie damit dem Wahnsinn Tür und Tor öffnet. Denn Gull hat etwas ganz anderes vor. Der praktizierende Freimaurer will die Niederlage des Weiblichen ein für alle Mal fundamentieren, und die Frauen, die von der verbotenen Affäre und ihrer Frucht wissen, sollen seine Opfer werden.
Zur Vorbereitung zeigt er seinem Kutscher John Netley die Stätten in London, in denen bereits Orte und Zeichen der Verehrung des Weiblichen von ganz und gar männlichen Symbolen überdeckt werden oder die deren Niederlage darstellen. Und dann beginnt er sein großes Werk, dem vier Prostituierte auf immer grausamere Weise zum Opfer fallen. Öffentlichkeit und Obrigkeit sind schockiert, aber alle Fahndungen verlaufen im Sande.

Viele mögen die Geschichte in groben Zügen bereits aus dem Film kennen. Dieser hat jedoch nur einige Motive aus der Graphic Novel entnommen, die Handlung auf das Notwendige reduziert und manche Details verändert. So ist Fred Abberline, der ermittelnde Inspektor, weder absinthabhängig, noch hat er alptraumhafte Visionen, die ihn schließlich in den Tod reißen.
Alan Moore und Eddy Campbell nehmen sich Zeit, die Geschichte zu erzählen. So beginnen sie lange vor den Morden und zeichnen zunächst einmal ein Sittenbild Londons in der spätviktorianischen Zeit. Die Königin ist eine verbitterte alte Witwe, die nicht erlauben kann, dass einer ihrer Nachfahren den Ruf der Familie schädigt; gleichzeitig gibt sie sich aber auch den Visionen des Sehers Nelson Edwin Lees hin, der hin und wieder versucht, ihr ihren verstorbenen Ehemann nahe zu bringen. Sie weiß nichts von dem schmutzigen und von Leben strotzenden Gassen Londons, in denen all der Laster und Untugenden gefrönt wird, die sie aus ihrer Gesellschaftsordnung ausgeschlossen hat.
Vor allem Whitechapel ist ein Bezirk, in dem die Prostituierten sich offen anbieten und viele Bordelle zu finden sind. Kaum eine von ihnen ist freiwillig in diese Lage geraten. Die meisten sehen in dem Verkauf ihres Körpers eine Chance, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, nachdem sie entweder ihren Ehemann verlassen haben oder z. B. als Dienstmädchen ungewollt schwanger wurden. Jede von ihnen hat eine besondere Geschichte, auch die Frauen, die später dem Ripper zum Opfer fallen.
Die Autoren machen keinen Hehl daraus, wen sie zu ihrem Mörder erkoren haben und aus welchen Motiven er handelt. Stattdessen zeigen sie von welchem Wahnsinn William Gull bereits am Anfang erfüllt ist und wie sich dieser im Verlauf der Morde immer mehr Bahn bricht. Durch ihn knüpfen sie Verbindungen zu anderen schicksalhaften Ereignissen dieses Jahres, wie etwa der Geburt eines Knaben in der österreichischen Stadt Braunau.
Auf der anderen Seite verfolgen sie nach, wie die Polizei mehr schlecht als recht den Spuren nachgeht und manche Indizien sogar vernichtet. Allein Fred Abberline lässt sich nicht von seiner Suche abbringen, auch wenn er oft genug die falschen Männer verdächtigt. Erst der Hellseher Lees bringt ihn auf die richtige Spur.
Durch die holzschnittartigen Zeichnungen, die zeitgenössischen Bildern aus Zeichnungen und Büchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts nachempfunden sind und manchmal sogar entsprechende Bilddokumente nachempfinden, beschwört Campbell die düsteren Seiten der spätviktorianischen Zeit herauf, zeigt aber auch, dass selbst in Verkommenheit und Laster Hoffnungen, Träume und Liebe existieren können. Allerdings gesteht man all dem in den unteren Schichten der Gesellschaft kaum Existenzberechtigung zu. Das perfektioniert die eindringliche Milieustudie aus einer Zeit, in der gute und strenge Sitten alles bedeuteten, aber die strenge Reglementierung des alltäglichen Lebens hinter den Kulissen zu immer größeren Exzessen führte, die vor allem Frauen ausbaden mussten.
Hat man jedenfalls einmal angefangen, »From Hell« zu lesen, kommt man nicht mehr so einfach davon los. Denn die Graphic Novel ist nicht nur in ihrer äußeren Form wuchtig, auch inhaltlich ist sie nicht leicht zu verdauen. Unwillkürlich wird man in die düstere Geschichte hinein gezogen und kann nur schwer abbrechen, so tief taucht man in die Handlung ein. Die mehr als zehnjährige Recherche hat sich bezahlt gemacht – trotz der langsamen Entwicklung bleibt die Spannung erhalten.
Interessant ist auch der über fünfzigseitige Anhang, in dem Alan Moore auflistet, welche Quellen den Kapiteln zugrunde liegen und was reine Phantasie ist. Das öffnet an manchen Stellen die Augen und macht die Geschichte noch plausibler. Auch der Bonus-Comic »Tanz der Möwenjäger« tut sein Übriges dazu.

Alles in allem ist »From Hell« sein Geld wert. Man hält eine von der Seitenanzahl wie auch im Inhalt beeindruckende Graphic Novel in Händen, die man durchaus zu den Klassikern zählen darf und die wie keine andere beweist, dass auch ein Comic mehr als schlichte Unterhaltungsliteratur sein kann.