Interviews

Im Gespräch mit: Dieter von Reeken

Wenn es um das Verlegen von Klassikern der deutschsprachigen Phantastik geht, dann ist der Verlag Dieter von Reeken eine der ersten Adressen. Serien wie „Sun Koh“ von Paul Alfred Müller und „Loke Klingsor“ von Robert Kraft, das Werk von Kurd Laßwitz oder Sachbücher von Heinz J. Galle seien beispielhaft genannt für ein mittlerweile sehr umfangreiches Buchprogramm, das zeigt, dass Deutschland schon seit langer Zeit  wichtige Stimmen der Phantastik hervorgebracht hat. Unser Mitarbeiter Carsten Kuhr hat sich mit Dieter von Reeken über dessen Intention unterhalten, der auch über die Arbeitsabläufe in seinem Verlag berichtet.


Guten Tag Herr von Reeken. Wie kommt man als pensionierter Verwaltungsjurist auf die Idee, einen Verlag zu gründen?

Schon in jungen Jahren (Anfang/Mitte der 60er Jahre) hatte ich (1948 geboren) Probleme, unter anderem „Der Krieg der Welten“ und „Der Unsichtbare“ von H. G. Wells zu bekommen; die Neuausgaben erschienen erst viel später. Damals hatte ich im Rahmen einer „Reformatoren-Gruppierung“ in und um den SFCD behutsam angeregt, der Club könne vielleicht den einen oder anderen seltenen älteren Text in kleiner Auflage neu veröffentlichen. Damals war man in dieser Hinsicht noch auf Wachsmatrizen- oder gar Spiritus-Umdruck-Vervielfältigung angewiesen, was viele sich heute kaum noch vorstellen können. Im SFCD kam es nicht zu solchen Neuausgaben, aber ein engagierter Sammler, Jakob Bleymehl, vervielfältigte im Spiritus-Umdruck-Verfahren in Kleinstauflagen mehrere ältere utopisch-phantastische Texte. Dafür gab es aber nur eine sehr kleine Nachfrage (die Aufmachung war nicht attraktiv, „echte“ Sammler suchten ohnehin die Originale), weshalb Herr Bleymehl sein Programm schließlich wieder einstellte; geblieben ist sein (1965) erschienenes Buch „Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der utopischen und phantastischen Literatur“, das ich als Neuausgabe veröffentlicht habe. Ich selbst war damals finanziell nicht in der Lage, Neuausgaben zu veröffentlichen. Nach Jurastudium und Tätigkeit als Verwaltungsjurist im niedersächsischen Landesdienst, zuletzt bei der Bezirksregierung in Lüneburg, hatte ich, auch angesichts des inzwischen zur Verfügung stehenden Digitaldrucks, die finanzielle und vor allem zeitliche Möglichkeit, meine alten Pläne wieder aufzunehmen. So kam es also zur Gründung meines Kleinverlags, in dem bisher mehr als 100 Bücher erschienen sind.

Zu Beginn des Verlags kristallisierten sich zwei Schwerpunkte heraus. Neben anderen zu Unrecht vergessenen Autoren zum einen das Oeuvre von Kurd Laßwitz, zum anderen alte, vergessene Utopien; was spricht Sie persönlich am Werk des Science-Fiction-Pioniers Laßwitz an, und warum kamen Sie darüber hinaus auf die Idee längst vergessene oder verschollene Utopien wieder aufzulegen?

Nach Neuausgaben der Erzählungen und Romane unter anderem von Carl Grunert, Oskar Hoffmann, Albert Daiber und Camille Flammarion wagte ich mich an eine Kurd-Laßwitz-Werkausgabe, vor allem in Hinblick auf den 100. Todestag des Dichters und Philosophen im Jahr 2010. Mich wunderte es, dass Kurd Laßwitz regelmäßig als „Vater der deutschen SF“ gefeiert wurde (sogar einen nach ihm benannten Preis gibt es), von ihm aber kaum unbearbeitete und ungekürzte Texte erreichbar waren. Ich hatte den Ehrgeiz, nicht nur „Auf zwei Planeten“, „Bilder aus der Zukunft“ und „Homchen“ als neu gesetzte Ausgaben (also nicht in Fraktur, die viele heute nicht mehr lesen können oder wollen) herauszugeben, sondern auch die verstreut in Zeitschriften und Jahrbüchern erschienenen Erzählungen und Aufsätze: denn auch seine nicht-belletristischen Texte (vor allem sein Hauptwerk „Geschichte der Atomistik“) sollten berücksichtigt werden. Mit freundlicher Unterstützung durch die Forschungsbibliothek Gotha, in der Laßwitz’ Nachlass aufbewahrt wird, und im Wege der Fernleihe ist es mir dann auch gelungen, sämtliche belletristischen Texte, auch bisher unveröffentlichte aus dem Nachlass, in 11 Bänden zu veröffentlichen (wobei „Auf zwei Planeten“ ein Doppelband ist). Auch die Sachtexte sind, mit Ausnahme der von Laßwitz verfassten Buchbesprechungen und der Vorabdruck-Aufsätze zur „Geschichte der Atomistik“, nahezu vollständig in 9 Bänden erschienen. Neben einer von Rudi Schweikert zusammengestellten illustrierten Bibliografie ist unter anderem auch ein Tagebuch Laßwitz’ aus seiner Frühzeit in Gotha erstveröffentlicht worden. Besonders hat mich gefreut, dass ich ein bisher unbekanntes Lustspiel („Studien“, eine Dramatisierung des Romans „Schlangenmoos“) und die allerersten (humoristischen) Erzählungen (1868/1869), die selbst in Gotha und im ganzen übrigen Deutschland nicht erreichbar waren, in Chicago finden und zugänglich machen konnte.

Wie kam es hier zum Fund? War da nicht detektivischer Spürsinn vonnöten?

Die beiden ersten im Druck erschienenen Texte von Laßwitz waren „Herr Strehler oder der poetische Hauslehrer“ (anonym erschienen in „Der industrielle Humorist“, Jahrgang 1868) und „Ich und mein Bruder werden nie heiraten“ (unter dem Pseudonym Jeremias Heiter, erschienen in “Der industrielle Humorist”, Jahrgang 1869). Beide Humoresken waren im Nachlass nicht enthalten. Die Forschungsbibliothek Gotha führte in ihrem Bestandsverzeichnis den Hinweis „Kein Exemplar ermittelt“. Das Bestandsverzeichnis hat Laßwitz’ Angaben aus einer handschriftlichen Zusammenstellung entnommen, in der fälschlich für beide Erzählungen „Jeremias Heiter“ und als Zeitschriftenname „Industrieller Humorist“ angegeben war. Der Name des „poetischen Hauslehrers“ lautet im Übrigen Strehler und nicht Strehle,   wie im Verzeichnis angegeben (das weggelassene r ist unter anderem Gegenstand der Erzählung). Diese Zeitschrift ist in Deutschland (und wohl auch im restlichen Europa) nur noch in wenigen einzelnen Exemplaren vorhanden, die Hefte mit den beiden Erzählungen gar nicht. Im hamburgischen Staatsarchiv (die Zeitschrift ist in Hamburg erschienen) gab es zwar einige wenige fast zerfallene Exemplare, aber eben nicht die besagten Nummern. Auf vielen Umwegen konnte ich die gesuchten Hefte in einem Archiv der Chicago Public Library ausfindig machen und Fotografien davon bekommen. So sind diese beiden illustrierten Humoresken seit 2010 wieder zugänglich. Das bisher unveröffentlichte Manuskript „Studien“ konnte ich in der Universitätsbibliothek Gießen in einer Handschriftensammlung ausfindig machen; meine Tochter, die dort studierte, hat mir eine Kopie vermittelt.

Gab und gibt es für beide Felder - Klassiker und Utopien - einen Markt? Ich stelle mir dies insbesondere bei den Utopien schwierig vor, eine größere Anzahl an Interessenten überhaupt zu finden. Haben Sie eine Vorstellung, wer sich hier als Kunde bei Ihnen gemeldet hat? Sind das eher Literaturwissenschaftlicher, Büchereien oder auch Sammler und Leser? Und wie kommt es hier zum Kontakt?

Es handelt sich hier um „Nischenausgaben“. Wie ich oben schon sagte, wollen „echte“ Sammler die Originale, in Frakturschrift. Die jüngere Generation ist mehr an Vampir-, Elfen- und sonstigen zeitgenössischen Texten interessiert. „Meine“ Leserschaft (es sind nur ganz wenige Frauen darunter) kommt aus einem sehr übersichtlichen Kreis von Interessenten; darunter sind mehrere öffentliche Bibliotheken, hinsichtlich Laßwitz sogar bis nach Japan, einige Sammler, Literaturfreunde, auch einige Literaturwissenschaftler. Die Auflagen sind entsprechend klein, zwischen 100 und 300 Stück. Ich habe eine Anschriften- und eMail-Liste, nach der ich meine potenziellen „Kunden“ informiere. Ansonsten gibt es hin und wieder Reaktionen auf Buchbesprechungen. Auch bei Amazon biete ich meine Bücher an.

Seit einigen Jahren, das Werk von Kurd Laßwitz liegt inzwischen in sehr schön gestalteten Hardcover-Bänden aber auch in preisgünstigeren Paperbacks umfassend vor -, wenden Sie sich anderen Autoren zu. Wie kam es zur Veröffentlichung von „Jan Mayen“, dem später auch „Sun Koh“ folgte? Was fasziniert Sie an dem Werk Müllers, wie sah und sieht hier der Leser- sprich der Käuferzuspruch aus?

Ich hatte viel über die „legendäre“ Heftserie „Sun Koh“ gehört, die es aber außer in alten Heftausgaben (und Raubdrucken) nur in bearbeiteter und gekürzter Fassung (Leihbücher, Taschenbücher) gab. Gleiches gilt für die Nachfolgeserie „Jan Mayen“. Da eine in einem Schweizer Verlag begonnene textgetreue und kommentierte Ausgabe aber nach Band 1 (mit den Heften 1 bis 5 von 150) nicht fortgeführt wurde, entschloss ich mich in Zusammenarbeit mit Heinz J. Galle, dem Inhaber der Urheberrechte, diese beiden Serien ungekürzt neu zu veröffentlichen. Das war eine Mammutaufgabe, denn die alten in Fraktur gedruckten Hefte mussten eingescannt, texterkannt und aufbereitet werden. Es sollte eine preiswerte Ausgabe in wenigen Bänden werden. Die Aufgabe konnte bewältigt werden, war aber doch ziemlich anstrengend. Nach „Sun Koh“ gibt es eine stetige Nachfrage, nach „Jan Mayen“ inzwischen kaum noch; die Nachfrage dürfte befriedigt sein. Die Einzelromane von Paul Alfred Müller alias Freder van Holk, davon einer aus dem Nachlass, wollte ich veröffentlichen, um aufzuzeigen, wie sehr Müller bei sich selbst („Sun Koh“) „Anleihen“ genommen hat. Auch fand ich es reizvoll, Müller als Popularisator der heute fast völlig vergessenen sogenannten Hohlwelt-Theorie in Erinnerung zu rufen: Mehrere seiner Romane fußen auf dieser Theorie. Da fand ich es folgerichtig, auch seine theoretischen Schriften hierzu zu veröffentlichen, um seine Gedankenwelt wenigstens nachvollziehen zu können.

Danach folgten zwei der Kolportageromane Robert Krafts. Im Gegensatz zu den PAM-Bänden in hochwertigeren Hardcover-Ausgaben. Wie kam es hier zur Publikation? War das nicht auch ungleich schwieriger, die alten meist zerfledderten Bände einzuscannen? Hatten Sie hier beim Scannen und Redigieren Hilfe, oder ist das ein Ein-Mann-Unternehmen?

Die Kraft-Kolportageromane „Atalanta“ und „Loke Klingsor“ (der 4. und letzte Band erscheint Ende Januar 2017) waren für mich wirklich ein Kraftakt, denn ich musste die teilweise in sehr schlechter Qualität vorliegenden Original-Lieferungshefte einscannen und für die Druckvorlage aufbereiten, und zwar ganz allein. Immerhin habe ich inzwischen Hilfe beim Korrekturlesen bekommen - die Fehlerquote war bei der Textmasse doch recht groß. Die Veröffentlichung erfolgte in Hinblick auf das 100. Todesjahr von Robert Kraft (2016) in Zusammenarbeit mit Thomas Braatz, der ja die eigentliche „Kraft“-Quelle ist. Mein Motiv lag außerdem darin, dass P. A. Müller für „Sun Koh“ und „Jan Mayen“ sehr viele Handlungsfelder und Ideen vor allem aus „Atalanta“, aber auch aus „Loke Klingsor“ übernommen hat.

Wie darf sich der Interessierte den Weg vom alten Buch zur Neuausgabe überhaupt vorstellen?

Wenn das neu zu veröffentlichende Buch vorliegt, muss zuerst die Urheberrechtsfrage geklärt werden; 70 Jahre nach dem Tod eines Verfassers erlöschen die Rechte, ansonsten müssen Rechte-Inhaber ausfindig gemacht werden; das ist manchmal Detektivarbeit. So muss ich zum Beispiel Lizenzgebühren für die VG Bild und Kunst zahlen für die Verwendung der „Sun Koh“-Titelbilder von Fritz Lattke. Dann muss der Text eingescannt und texterkannt werden, wobei es bei Frakturschriften sehr viele Unstimmigkeiten gibt. Der Rohtext muss dann korrekturgelesen werden. Das Ganze muss für die Druckvorlage, eventuell ergänzt durch Abbildungen und ein Vor- oder Nachwort mit editorischen Hinweisen, in eine einheitliche Form (Layout) gebracht und schließlich mit einer ISBN versehen als PDF an die Druckerei gegeben werden. Nach der Auslieferung muss ich Pflichtexemplare an die Deutsche Nationalbibliothek und die Niedersächsische Landesbibliothek senden, Belegexemplare an Urheberrechtsinhaber und/oder Helfer und Besprechungsexemplare an geeignete Personen und Stellen. Dann erfolgt in einem „großen Rutsch“ der Versand an die Vorbesteller, die Meldung an das Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) und an Amazon. Der Verkauf erfolgt dann über Jahre, die Druckereirechnung und die VG-Gebühren muss ich allerdings sofort bezahlen. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich betonen, dass ich Steuern und viele andere Abgaben (Berufsgenossenschaft, Industrie- und Handelskammer, VLB, Künstlersozialkasse, Verpackungsverordnung) zahle und dass ich die Einnahmen verwende, um neue Projekte vorzufinanzieren. Ich bin froh, wenn ich „schwarze Zahlen“ habe; ansonsten betreibe ich meinen Kleinverlag aus Neigung.

Neben den erzählerischen Büchern kommen auch immer wieder einmal sekundärwissenschaftliche Bände mit gesammelten Essays und Aufsätze bei Ihnen heraus. Ist das nicht eine brotlose Kunst, gibt es hier einen Markt? Nach welchen Kriterien wählen Sie hier die Autoren aus?

Die sekundärliterarischen Bücher sind keine Bestseller, aber es macht mir Freude, die mit so viel Einsatz zusammengestellten und mir angebotenen Werke zu gestalten und zu veröffentlichen. Der Absatz zieht sich oft über Jahre hin, aber ich es für wichtig, dass die Bücher von Jakob Bleymehl, Rainer Eisfeld, Fritz Heidorn, Heinz J. Galle und Franz Rottensteiner erreichbar sind. Gerade diese Bücher werden von Bibliotheken und über Amazon gefragt.

Herr von Reeken, vielen Dank für das Gespräch.

Ich habe zu danken.